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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Den mit "Indes" anfangenden Satz unterschreiben wir schon nicht mehr
vollständig. Er weist aus einen Punkt hin, in dem wir dem geistreichen, mit
gediegenen historischen Kenntnissen ausgerüsteten Geschichtsphilosophen ent¬
schieden widersprechen müssen. Elater hat sich von dem gewöhnlichen Fehler
philosophischer, d. h. in den meisten Fällen systematischer Köpfe nicht frei ge¬
halten. Wie Karl Marx alle Erscheinungen des menschlichen Lebens auf den
Wirtschaftsbetrieb zurückführt und auch sogar jede herrschende Religion für ein
Spiegelbild des gleichzeitigen wirtschaftlichen Zustandes hält, so leitet um¬
gekehrt Elater alle Veränderungen und alle Lebenserscheinungen des Mittel¬
alters einschließlich der wirtschaftlichen aus dem weltflüchtigen Katholizismus ab.
Das ist so falsch wie möglich. Es ist z. B. nicht richtig, wenn er sagt:
"Die asketisch-hierarchische Idee der Kirche hatte nach einander das alte
römische Kaiserreich, das karolingische und schließlich das deutsche Reich zu
Grunde gerichtet." Das römische Kaiserreich und das Karolingerreich hätten
an ihrem eignen übermüßigen Umfange bei mangelnder Gleichartigkeit der Teile
zu Grunde gehen müssen, auch wenn es überhaupt keine Kirche gegeben hätte,
das deutsche Reich aber ist erst von Bonaparte zerschlagen worden. Schwach
war es ja geworden, was bei seinem tausendjährigen Alter niemand groß
Wunder nehmen kann; aber wenn es ein genialer Staatsmann im vorigen
Jahrhunderte hätte verjüngen wollen, so würde nicht die hierarchische Idee,
sondern wie 1870 der französische Nachbar das zu überwindende Hindernis
gebildet haben. Es ist auch unrichtig, daß die Abneigung der Kirche gegen
weltliches Wissen an der Unbildung fast aller nichtstädtischen Kreise schuld
gewesen sei. Sie erklärt sich sehr natürlich aus der Schwierigkeit, vor Er¬
findung der Buchdruckerkunst in Gegenden mit schlechten Verkehrsverhältnissen
irgend welches Buchstabenwissen zu verbreiten. Dazu kam noch das Vorurteil
von Kreisen, die gar nicht übermäßig kirchlich gesinnt waren. Während in
den innig frommen Familien der Ottonen und Heinriche die Wissenschaften,
so weit solche vorhanden waren, die eifrigste und sorglichste Pflege fanden,
erklärte das spätere verweltlichte Rittertum, das nach französischem Muster
seine Liebeslieder und Romanzen sang, das Schreiben für ein unritterliches
Geschäft und verzichtete sogar darauf, lesen zu lernen; die Minnesänger dik-
tirten ihre Dichtungen lieber, als daß sie sie selbst aufschrieben. Sie waren
eben von jenem junkerlichen Geiste beseelt, der auch heute noch nicht ganz aus¬
gestorben ist. Es ist endlich eine ungeheuerliche Übertreibung, wenn die
Naturalwirtschaft, der gebundene Grundbesitz, die Beschränktheit des Handels¬
verkehres, die Gründung des Staates aus den Grundbesitz, die Verschmelzung
des öffentlichen mit dem Privatrecht auf die herrschenden religiösen Vor¬
stellungen zurückgeführt werden. Wahr ist daran nur, daß die Kirche die
Naturalwirtschaft begünstigt und die Entwicklung der Geldwirtschaft durch das
kanonische Zinsverbot (vergebens!) zu hemmen suchte. An sich waren alle


Den mit „Indes" anfangenden Satz unterschreiben wir schon nicht mehr
vollständig. Er weist aus einen Punkt hin, in dem wir dem geistreichen, mit
gediegenen historischen Kenntnissen ausgerüsteten Geschichtsphilosophen ent¬
schieden widersprechen müssen. Elater hat sich von dem gewöhnlichen Fehler
philosophischer, d. h. in den meisten Fällen systematischer Köpfe nicht frei ge¬
halten. Wie Karl Marx alle Erscheinungen des menschlichen Lebens auf den
Wirtschaftsbetrieb zurückführt und auch sogar jede herrschende Religion für ein
Spiegelbild des gleichzeitigen wirtschaftlichen Zustandes hält, so leitet um¬
gekehrt Elater alle Veränderungen und alle Lebenserscheinungen des Mittel¬
alters einschließlich der wirtschaftlichen aus dem weltflüchtigen Katholizismus ab.
Das ist so falsch wie möglich. Es ist z. B. nicht richtig, wenn er sagt:
„Die asketisch-hierarchische Idee der Kirche hatte nach einander das alte
römische Kaiserreich, das karolingische und schließlich das deutsche Reich zu
Grunde gerichtet." Das römische Kaiserreich und das Karolingerreich hätten
an ihrem eignen übermüßigen Umfange bei mangelnder Gleichartigkeit der Teile
zu Grunde gehen müssen, auch wenn es überhaupt keine Kirche gegeben hätte,
das deutsche Reich aber ist erst von Bonaparte zerschlagen worden. Schwach
war es ja geworden, was bei seinem tausendjährigen Alter niemand groß
Wunder nehmen kann; aber wenn es ein genialer Staatsmann im vorigen
Jahrhunderte hätte verjüngen wollen, so würde nicht die hierarchische Idee,
sondern wie 1870 der französische Nachbar das zu überwindende Hindernis
gebildet haben. Es ist auch unrichtig, daß die Abneigung der Kirche gegen
weltliches Wissen an der Unbildung fast aller nichtstädtischen Kreise schuld
gewesen sei. Sie erklärt sich sehr natürlich aus der Schwierigkeit, vor Er¬
findung der Buchdruckerkunst in Gegenden mit schlechten Verkehrsverhältnissen
irgend welches Buchstabenwissen zu verbreiten. Dazu kam noch das Vorurteil
von Kreisen, die gar nicht übermäßig kirchlich gesinnt waren. Während in
den innig frommen Familien der Ottonen und Heinriche die Wissenschaften,
so weit solche vorhanden waren, die eifrigste und sorglichste Pflege fanden,
erklärte das spätere verweltlichte Rittertum, das nach französischem Muster
seine Liebeslieder und Romanzen sang, das Schreiben für ein unritterliches
Geschäft und verzichtete sogar darauf, lesen zu lernen; die Minnesänger dik-
tirten ihre Dichtungen lieber, als daß sie sie selbst aufschrieben. Sie waren
eben von jenem junkerlichen Geiste beseelt, der auch heute noch nicht ganz aus¬
gestorben ist. Es ist endlich eine ungeheuerliche Übertreibung, wenn die
Naturalwirtschaft, der gebundene Grundbesitz, die Beschränktheit des Handels¬
verkehres, die Gründung des Staates aus den Grundbesitz, die Verschmelzung
des öffentlichen mit dem Privatrecht auf die herrschenden religiösen Vor¬
stellungen zurückgeführt werden. Wahr ist daran nur, daß die Kirche die
Naturalwirtschaft begünstigt und die Entwicklung der Geldwirtschaft durch das
kanonische Zinsverbot (vergebens!) zu hemmen suchte. An sich waren alle


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[0219] Den mit „Indes" anfangenden Satz unterschreiben wir schon nicht mehr vollständig. Er weist aus einen Punkt hin, in dem wir dem geistreichen, mit gediegenen historischen Kenntnissen ausgerüsteten Geschichtsphilosophen ent¬ schieden widersprechen müssen. Elater hat sich von dem gewöhnlichen Fehler philosophischer, d. h. in den meisten Fällen systematischer Köpfe nicht frei ge¬ halten. Wie Karl Marx alle Erscheinungen des menschlichen Lebens auf den Wirtschaftsbetrieb zurückführt und auch sogar jede herrschende Religion für ein Spiegelbild des gleichzeitigen wirtschaftlichen Zustandes hält, so leitet um¬ gekehrt Elater alle Veränderungen und alle Lebenserscheinungen des Mittel¬ alters einschließlich der wirtschaftlichen aus dem weltflüchtigen Katholizismus ab. Das ist so falsch wie möglich. Es ist z. B. nicht richtig, wenn er sagt: „Die asketisch-hierarchische Idee der Kirche hatte nach einander das alte römische Kaiserreich, das karolingische und schließlich das deutsche Reich zu Grunde gerichtet." Das römische Kaiserreich und das Karolingerreich hätten an ihrem eignen übermüßigen Umfange bei mangelnder Gleichartigkeit der Teile zu Grunde gehen müssen, auch wenn es überhaupt keine Kirche gegeben hätte, das deutsche Reich aber ist erst von Bonaparte zerschlagen worden. Schwach war es ja geworden, was bei seinem tausendjährigen Alter niemand groß Wunder nehmen kann; aber wenn es ein genialer Staatsmann im vorigen Jahrhunderte hätte verjüngen wollen, so würde nicht die hierarchische Idee, sondern wie 1870 der französische Nachbar das zu überwindende Hindernis gebildet haben. Es ist auch unrichtig, daß die Abneigung der Kirche gegen weltliches Wissen an der Unbildung fast aller nichtstädtischen Kreise schuld gewesen sei. Sie erklärt sich sehr natürlich aus der Schwierigkeit, vor Er¬ findung der Buchdruckerkunst in Gegenden mit schlechten Verkehrsverhältnissen irgend welches Buchstabenwissen zu verbreiten. Dazu kam noch das Vorurteil von Kreisen, die gar nicht übermäßig kirchlich gesinnt waren. Während in den innig frommen Familien der Ottonen und Heinriche die Wissenschaften, so weit solche vorhanden waren, die eifrigste und sorglichste Pflege fanden, erklärte das spätere verweltlichte Rittertum, das nach französischem Muster seine Liebeslieder und Romanzen sang, das Schreiben für ein unritterliches Geschäft und verzichtete sogar darauf, lesen zu lernen; die Minnesänger dik- tirten ihre Dichtungen lieber, als daß sie sie selbst aufschrieben. Sie waren eben von jenem junkerlichen Geiste beseelt, der auch heute noch nicht ganz aus¬ gestorben ist. Es ist endlich eine ungeheuerliche Übertreibung, wenn die Naturalwirtschaft, der gebundene Grundbesitz, die Beschränktheit des Handels¬ verkehres, die Gründung des Staates aus den Grundbesitz, die Verschmelzung des öffentlichen mit dem Privatrecht auf die herrschenden religiösen Vor¬ stellungen zurückgeführt werden. Wahr ist daran nur, daß die Kirche die Naturalwirtschaft begünstigt und die Entwicklung der Geldwirtschaft durch das kanonische Zinsverbot (vergebens!) zu hemmen suchte. An sich waren alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/219>, abgerufen am 26.08.2024.