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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Würdigen Namens des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, unter
Joseph II., jener Widerspruch wieder auflebte, da fand er sich aus dem idealen
ins reale Gebiet versetzt. Nicht als Beherrscher der Welt, sondern als un¬
umschränkter Herr seiner Erblünder, die er in einen gleichartigen absolut re¬
gierten Staat zu verschmelzen versuchte, nahm Joseph alles Weltliche für sich
in Anspruch und verwies er den Papst ins Innere der Kirche, nicht einmal
die Sakristei und die Kanzel ihm zu ganz freier Verfügung überlassend, und
mit der deutlichen Tendenz, ihn ganz ans dem Staate auszuschließen, die
Geistlichkeit aber in die schwarze Garde des Polizeistaats, wie Schaffte es
nennt, zu verwandeln.

Ehe wir vom Mittelalter scheiden, müssen wir doch noch des großartigen
Werkes des zu früh verstorbnen Heinrich von Elater: "Geschichte und System
der mittelalterlichen Weltanschauung" wenigstens kurz gedenken. In den zwei
grundlegenden Sätzen seiner Auffassung des Mittelalters stimmen wir ihm bei.
Er weist nach, daß die Weltflucht in der That folgerichtig aus den Lehren
des Neuen Testaments hervorgeht. Sonderbarerweise führt er den Spruch
1. Joh. 2, 15 und 16 nicht an, der die vom Bruder Martin in Goethes Götz
als empörend und unnatürlich bezeichnete Verleugnung der drei Grundtrieb¬
federn alles menschlichen Wirkens und Strebens so klar, kurz und unzweideutig
ausspricht: "Wollet die Welt nicht lieben, noch was in der Welt ist. Wenn
jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters uicht in ihm. Alles, was
in der Welt ist, ist Fleischeslust. Augenlust und Hoffart des Lebens." Aber
er bringt ein reichliches Beweismaterial dafür zusammen, daß diese und ähn¬
liche Stellen nicht etwa erst von den Mönchen des Mittelalters, sondern
schon von den Kirchenvätern des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts
in dem Sinne verstanden wurden, den ihr Wortlaut am nächsten legt, daß
demnach die Befriedigung des Geschlechtstriebes höchstens in der Ehe als un-
vermeidliches beklagenswertes Übel zugelassen, aller Besitz von Privateigentum
und alle Freude am schönen Schein für sündhaft erklärt wurden. Der andre
Satz ist dann, daß die Weltflucht der Kirche, mit Hegel zu reden, zufolge der
immanenten Dialektik des Weltprozesses in grobe Weltlichkeit umschlug, oder
wie Hamerliug sich ausdrücken würde, diese nach dem Gesetze der Polarität
aus sich erzeugte. "Durch die Tugend der Armut -- sagt Elater -- erwarb
die Kirche unermeßliche Reichtümer, durch die Tugend des Gehorsams erwuchs
sie zum größten und mächtigsten Staatswesen, das es jemals gegeben hat
jemals? das römische Reich war doch wohl noch größer und mächtiger),
durch die Tugend der Keuschheit endlich gewann sie ein unvergleichlich beweg¬
liches, jederzeit kampfbereites Beamtenheer. Indes das Mittelalter in Staat
und Familie, in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sich von der Sinnenwelt
abwandte, strebte es in der Kirche mit demselben Eifer wieder zur Welt zurück;
in diesem Zirkel lag die Tragik der mittelalterlichen Geschichte."


Geschichtsphilosophische Gedanken

Würdigen Namens des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, unter
Joseph II., jener Widerspruch wieder auflebte, da fand er sich aus dem idealen
ins reale Gebiet versetzt. Nicht als Beherrscher der Welt, sondern als un¬
umschränkter Herr seiner Erblünder, die er in einen gleichartigen absolut re¬
gierten Staat zu verschmelzen versuchte, nahm Joseph alles Weltliche für sich
in Anspruch und verwies er den Papst ins Innere der Kirche, nicht einmal
die Sakristei und die Kanzel ihm zu ganz freier Verfügung überlassend, und
mit der deutlichen Tendenz, ihn ganz ans dem Staate auszuschließen, die
Geistlichkeit aber in die schwarze Garde des Polizeistaats, wie Schaffte es
nennt, zu verwandeln.

Ehe wir vom Mittelalter scheiden, müssen wir doch noch des großartigen
Werkes des zu früh verstorbnen Heinrich von Elater: „Geschichte und System
der mittelalterlichen Weltanschauung" wenigstens kurz gedenken. In den zwei
grundlegenden Sätzen seiner Auffassung des Mittelalters stimmen wir ihm bei.
Er weist nach, daß die Weltflucht in der That folgerichtig aus den Lehren
des Neuen Testaments hervorgeht. Sonderbarerweise führt er den Spruch
1. Joh. 2, 15 und 16 nicht an, der die vom Bruder Martin in Goethes Götz
als empörend und unnatürlich bezeichnete Verleugnung der drei Grundtrieb¬
federn alles menschlichen Wirkens und Strebens so klar, kurz und unzweideutig
ausspricht: „Wollet die Welt nicht lieben, noch was in der Welt ist. Wenn
jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters uicht in ihm. Alles, was
in der Welt ist, ist Fleischeslust. Augenlust und Hoffart des Lebens." Aber
er bringt ein reichliches Beweismaterial dafür zusammen, daß diese und ähn¬
liche Stellen nicht etwa erst von den Mönchen des Mittelalters, sondern
schon von den Kirchenvätern des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts
in dem Sinne verstanden wurden, den ihr Wortlaut am nächsten legt, daß
demnach die Befriedigung des Geschlechtstriebes höchstens in der Ehe als un-
vermeidliches beklagenswertes Übel zugelassen, aller Besitz von Privateigentum
und alle Freude am schönen Schein für sündhaft erklärt wurden. Der andre
Satz ist dann, daß die Weltflucht der Kirche, mit Hegel zu reden, zufolge der
immanenten Dialektik des Weltprozesses in grobe Weltlichkeit umschlug, oder
wie Hamerliug sich ausdrücken würde, diese nach dem Gesetze der Polarität
aus sich erzeugte. „Durch die Tugend der Armut — sagt Elater — erwarb
die Kirche unermeßliche Reichtümer, durch die Tugend des Gehorsams erwuchs
sie zum größten und mächtigsten Staatswesen, das es jemals gegeben hat
jemals? das römische Reich war doch wohl noch größer und mächtiger),
durch die Tugend der Keuschheit endlich gewann sie ein unvergleichlich beweg¬
liches, jederzeit kampfbereites Beamtenheer. Indes das Mittelalter in Staat
und Familie, in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sich von der Sinnenwelt
abwandte, strebte es in der Kirche mit demselben Eifer wieder zur Welt zurück;
in diesem Zirkel lag die Tragik der mittelalterlichen Geschichte."


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[0218] Geschichtsphilosophische Gedanken Würdigen Namens des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, unter Joseph II., jener Widerspruch wieder auflebte, da fand er sich aus dem idealen ins reale Gebiet versetzt. Nicht als Beherrscher der Welt, sondern als un¬ umschränkter Herr seiner Erblünder, die er in einen gleichartigen absolut re¬ gierten Staat zu verschmelzen versuchte, nahm Joseph alles Weltliche für sich in Anspruch und verwies er den Papst ins Innere der Kirche, nicht einmal die Sakristei und die Kanzel ihm zu ganz freier Verfügung überlassend, und mit der deutlichen Tendenz, ihn ganz ans dem Staate auszuschließen, die Geistlichkeit aber in die schwarze Garde des Polizeistaats, wie Schaffte es nennt, zu verwandeln. Ehe wir vom Mittelalter scheiden, müssen wir doch noch des großartigen Werkes des zu früh verstorbnen Heinrich von Elater: „Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung" wenigstens kurz gedenken. In den zwei grundlegenden Sätzen seiner Auffassung des Mittelalters stimmen wir ihm bei. Er weist nach, daß die Weltflucht in der That folgerichtig aus den Lehren des Neuen Testaments hervorgeht. Sonderbarerweise führt er den Spruch 1. Joh. 2, 15 und 16 nicht an, der die vom Bruder Martin in Goethes Götz als empörend und unnatürlich bezeichnete Verleugnung der drei Grundtrieb¬ federn alles menschlichen Wirkens und Strebens so klar, kurz und unzweideutig ausspricht: „Wollet die Welt nicht lieben, noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters uicht in ihm. Alles, was in der Welt ist, ist Fleischeslust. Augenlust und Hoffart des Lebens." Aber er bringt ein reichliches Beweismaterial dafür zusammen, daß diese und ähn¬ liche Stellen nicht etwa erst von den Mönchen des Mittelalters, sondern schon von den Kirchenvätern des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts in dem Sinne verstanden wurden, den ihr Wortlaut am nächsten legt, daß demnach die Befriedigung des Geschlechtstriebes höchstens in der Ehe als un- vermeidliches beklagenswertes Übel zugelassen, aller Besitz von Privateigentum und alle Freude am schönen Schein für sündhaft erklärt wurden. Der andre Satz ist dann, daß die Weltflucht der Kirche, mit Hegel zu reden, zufolge der immanenten Dialektik des Weltprozesses in grobe Weltlichkeit umschlug, oder wie Hamerliug sich ausdrücken würde, diese nach dem Gesetze der Polarität aus sich erzeugte. „Durch die Tugend der Armut — sagt Elater — erwarb die Kirche unermeßliche Reichtümer, durch die Tugend des Gehorsams erwuchs sie zum größten und mächtigsten Staatswesen, das es jemals gegeben hat jemals? das römische Reich war doch wohl noch größer und mächtiger), durch die Tugend der Keuschheit endlich gewann sie ein unvergleichlich beweg¬ liches, jederzeit kampfbereites Beamtenheer. Indes das Mittelalter in Staat und Familie, in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sich von der Sinnenwelt abwandte, strebte es in der Kirche mit demselben Eifer wieder zur Welt zurück; in diesem Zirkel lag die Tragik der mittelalterlichen Geschichte."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/218>, abgerufen am 26.08.2024.