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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

die nur in der Jugend zu erlangen ist und die die notwendige Grundlage
des geistigen Fortschritts bildet. Mau kann nun zwar sagen, daß von vorn¬
herein ein Teil der Jugend zur physischen, ein kleinerer zur geistigen Arbeit
bestimmt werden könnte. Aber läge darin nicht eine furchtbare Beschränkung
der Selbständigkeit, nach irgend welcher Schablone zu bestimmen, welchem
Berufe sich einer zu widmen habe? Wollte man es aber jedem überlasse",
welchem Berufe er sich zuwenden will, dann müßte dies im sozialdemokratischen
Staate zu den größte" Unzuträglichkeiten führen, zu großem Überfluß an
Ausgebildeten in dem einen, zu großem Mangel in dem andern Berufe, gerade
so wie es heutzutage der Fall ist, es würde eine Menge vou Leuten gebe",
die arbeitslos sind.

Aber auch noch in einer andern Beziehung würde der sozialdemokratische
Staat mit dem Selbstündigkeitstrieb in Kampf geraten. Die Pflegstätte des
Individualismus ist die Familie; nur in der Familie kaun sich der Einzelne
nach seinen Anlagen und Interessen zu eiuer selbständigen Persönlichkeit ent¬
wickeln, weil allein in der Familie jene Anlagen und Interessen volle Berück¬
sichtigung und sorgsame Pflege finden können. In der Welt schleift sich der
Charakter ab, der Einzelne lernt seine Individualität so weit abstreifen, als
es zum Zusammenleben mit andern notwendig ist und die Ziele der Gesell¬
schaft es fordern. Der Einzelne wird in der Welt nicht als Individuum
berücksichtigt, seine eignen Ziele und Pläne werden nicht gefördert, außer
insofern sie eine Förderung der Ziele andrer und der Gesellschaft in sich enthalten.

Die Familie fordert nun an sich nicht gerade Kapital, sondern nnr
Privateigentum, das nicht verzinslich zu sein braucht, aber sie muß notwendig
das Streben zur Kapitalbildung haben. Denn so wie die Familie nur da¬
durch möglich ist, daß sie sich wirtschaftlich selbständig macht, so muß auch
in ihr das Bestreben der Eltern herrschen, ihre Kinder selbständig zu machen,
wie sie es selbst sind. Das ist aber sehr schwer möglich ohne Kapital; nur
wer von seinen Zinsen leben kann, ist nicht nur sür sich, sondern auch in seineu
Nachkommen selbständig, weiß seine Nachkommen wirtschaftlich gesichert, kann
seinen Kindern die Berufswahl in ausgedehnterem Maße überlassen; Eigentum
dagegen, das keine Zinsen trägt, ist bald aufgezehrt und würde den Kindern,
seine Erblichkeit vorausgesetzt, niemals jene Selbständigkeit gewahren können
wie Kapitaleigentum. Die Familie wird daher notwendig nach Kapitaleigen-
tum streben, weil sie nach möglichster Selbständigkeit strebt. Die Familie ist
nicht das Element des Staates, sie ist vielmehr die individualistisch not¬
wendige Beschränkung der Allgewalt des Staates. Deswegen sind auch die
Sozialdemokraten heimlich oder offen (in der Theorie) Feinde der Familie, sie
wissen recht gut, daß in ihr der Trieb nach Selbständigkeit großgezogen wird,
daß dieser zum Kapitaleigentum treibt und somit deu sozialdemokratischen
Grundsätzen widerspricht.


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

die nur in der Jugend zu erlangen ist und die die notwendige Grundlage
des geistigen Fortschritts bildet. Mau kann nun zwar sagen, daß von vorn¬
herein ein Teil der Jugend zur physischen, ein kleinerer zur geistigen Arbeit
bestimmt werden könnte. Aber läge darin nicht eine furchtbare Beschränkung
der Selbständigkeit, nach irgend welcher Schablone zu bestimmen, welchem
Berufe sich einer zu widmen habe? Wollte man es aber jedem überlasse«,
welchem Berufe er sich zuwenden will, dann müßte dies im sozialdemokratischen
Staate zu den größte» Unzuträglichkeiten führen, zu großem Überfluß an
Ausgebildeten in dem einen, zu großem Mangel in dem andern Berufe, gerade
so wie es heutzutage der Fall ist, es würde eine Menge vou Leuten gebe»,
die arbeitslos sind.

Aber auch noch in einer andern Beziehung würde der sozialdemokratische
Staat mit dem Selbstündigkeitstrieb in Kampf geraten. Die Pflegstätte des
Individualismus ist die Familie; nur in der Familie kaun sich der Einzelne
nach seinen Anlagen und Interessen zu eiuer selbständigen Persönlichkeit ent¬
wickeln, weil allein in der Familie jene Anlagen und Interessen volle Berück¬
sichtigung und sorgsame Pflege finden können. In der Welt schleift sich der
Charakter ab, der Einzelne lernt seine Individualität so weit abstreifen, als
es zum Zusammenleben mit andern notwendig ist und die Ziele der Gesell¬
schaft es fordern. Der Einzelne wird in der Welt nicht als Individuum
berücksichtigt, seine eignen Ziele und Pläne werden nicht gefördert, außer
insofern sie eine Förderung der Ziele andrer und der Gesellschaft in sich enthalten.

Die Familie fordert nun an sich nicht gerade Kapital, sondern nnr
Privateigentum, das nicht verzinslich zu sein braucht, aber sie muß notwendig
das Streben zur Kapitalbildung haben. Denn so wie die Familie nur da¬
durch möglich ist, daß sie sich wirtschaftlich selbständig macht, so muß auch
in ihr das Bestreben der Eltern herrschen, ihre Kinder selbständig zu machen,
wie sie es selbst sind. Das ist aber sehr schwer möglich ohne Kapital; nur
wer von seinen Zinsen leben kann, ist nicht nur sür sich, sondern auch in seineu
Nachkommen selbständig, weiß seine Nachkommen wirtschaftlich gesichert, kann
seinen Kindern die Berufswahl in ausgedehnterem Maße überlassen; Eigentum
dagegen, das keine Zinsen trägt, ist bald aufgezehrt und würde den Kindern,
seine Erblichkeit vorausgesetzt, niemals jene Selbständigkeit gewahren können
wie Kapitaleigentum. Die Familie wird daher notwendig nach Kapitaleigen-
tum streben, weil sie nach möglichster Selbständigkeit strebt. Die Familie ist
nicht das Element des Staates, sie ist vielmehr die individualistisch not¬
wendige Beschränkung der Allgewalt des Staates. Deswegen sind auch die
Sozialdemokraten heimlich oder offen (in der Theorie) Feinde der Familie, sie
wissen recht gut, daß in ihr der Trieb nach Selbständigkeit großgezogen wird,
daß dieser zum Kapitaleigentum treibt und somit deu sozialdemokratischen
Grundsätzen widerspricht.


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[0208] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates die nur in der Jugend zu erlangen ist und die die notwendige Grundlage des geistigen Fortschritts bildet. Mau kann nun zwar sagen, daß von vorn¬ herein ein Teil der Jugend zur physischen, ein kleinerer zur geistigen Arbeit bestimmt werden könnte. Aber läge darin nicht eine furchtbare Beschränkung der Selbständigkeit, nach irgend welcher Schablone zu bestimmen, welchem Berufe sich einer zu widmen habe? Wollte man es aber jedem überlasse«, welchem Berufe er sich zuwenden will, dann müßte dies im sozialdemokratischen Staate zu den größte» Unzuträglichkeiten führen, zu großem Überfluß an Ausgebildeten in dem einen, zu großem Mangel in dem andern Berufe, gerade so wie es heutzutage der Fall ist, es würde eine Menge vou Leuten gebe», die arbeitslos sind. Aber auch noch in einer andern Beziehung würde der sozialdemokratische Staat mit dem Selbstündigkeitstrieb in Kampf geraten. Die Pflegstätte des Individualismus ist die Familie; nur in der Familie kaun sich der Einzelne nach seinen Anlagen und Interessen zu eiuer selbständigen Persönlichkeit ent¬ wickeln, weil allein in der Familie jene Anlagen und Interessen volle Berück¬ sichtigung und sorgsame Pflege finden können. In der Welt schleift sich der Charakter ab, der Einzelne lernt seine Individualität so weit abstreifen, als es zum Zusammenleben mit andern notwendig ist und die Ziele der Gesell¬ schaft es fordern. Der Einzelne wird in der Welt nicht als Individuum berücksichtigt, seine eignen Ziele und Pläne werden nicht gefördert, außer insofern sie eine Förderung der Ziele andrer und der Gesellschaft in sich enthalten. Die Familie fordert nun an sich nicht gerade Kapital, sondern nnr Privateigentum, das nicht verzinslich zu sein braucht, aber sie muß notwendig das Streben zur Kapitalbildung haben. Denn so wie die Familie nur da¬ durch möglich ist, daß sie sich wirtschaftlich selbständig macht, so muß auch in ihr das Bestreben der Eltern herrschen, ihre Kinder selbständig zu machen, wie sie es selbst sind. Das ist aber sehr schwer möglich ohne Kapital; nur wer von seinen Zinsen leben kann, ist nicht nur sür sich, sondern auch in seineu Nachkommen selbständig, weiß seine Nachkommen wirtschaftlich gesichert, kann seinen Kindern die Berufswahl in ausgedehnterem Maße überlassen; Eigentum dagegen, das keine Zinsen trägt, ist bald aufgezehrt und würde den Kindern, seine Erblichkeit vorausgesetzt, niemals jene Selbständigkeit gewahren können wie Kapitaleigentum. Die Familie wird daher notwendig nach Kapitaleigen- tum streben, weil sie nach möglichster Selbständigkeit strebt. Die Familie ist nicht das Element des Staates, sie ist vielmehr die individualistisch not¬ wendige Beschränkung der Allgewalt des Staates. Deswegen sind auch die Sozialdemokraten heimlich oder offen (in der Theorie) Feinde der Familie, sie wissen recht gut, daß in ihr der Trieb nach Selbständigkeit großgezogen wird, daß dieser zum Kapitaleigentum treibt und somit deu sozialdemokratischen Grundsätzen widerspricht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/208>, abgerufen am 26.08.2024.