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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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darauf angewiesen wäre, sich stets mit den andern zu vergleichen, und man
wird ermessen können, welche Unmasse von Neid- und Hnßgefühlen dadurch
erzeugt werden müßten. Dazu kommt noch, daß der sozialdemokratische Staat,
wie gesagt, zum Teil durch den Neid und Haß gegen Mehrbesitzende entstanden
gedacht werden müßte, daß also diese Gefühle von vornherein vorherrschen
würden oder wenigstens gestärkt erscheinen müßten. Unter diesen Umständen
wäre eine ruhige Entwicklung ganz undenkbar, der sozialdemokratische Staat
wäre zerrissen durch Parteien, und die Bürger, die sich in ihrem Verdienst
benachteiligt glaubten, würden auf eine Umwälzung der bestehenden Staats¬
ordnung hinarbeiten.

Also: entweder der sozialdemokratische Staat müßte die Macht haben,
jene Vergleichungsgefühle nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich (psychisch)
zu unterdrücken, oder er müßte jeden Anlaß hinwegräumen können, der ihnen
Nahrung bieten könnte. Weder das eine noch das andre ist denkbar.

Ein zweites, was dem sozialdemokratischen Staate entgegenarbeiten würde,
ist das Streben nach Selbständigkeit, das jeder Mensch bis zu einem gewissen
Grade besitzt. Die Selbständigkeit wurzelt darin, daß mau eigne Ziele hat
und sie verfolgen kann. Wer keine eignen Ziele hat, ist keine selbständige
Natur, wer sie nicht verfolgen kann, ist in seiner Selbständigkeit unterdrückt.
Man kann seine Selbständigkeit auch wahre", wenn man die Ziele andrer
unterstützt, aber dann muß man sie zu eignen gemacht haben, man muß ein
eignes Interesse für die Ziele andrer haben; denn wer die Ziele andrer unter¬
stützt, weil er muß oder auch nur, weil er selbst keine Ziele hat (keine selb¬
ständige Natur ist), ist unselbständig.

Aber die Selbständigkeit hat anch ihre wirtschaftliche Seite; es kann
niemand selbständig sein, der wirtschaftlich unselbständig ist. Daher setzt die
Selbständigkeit Privateigentum voraus, und zwar ein Privateigentum, das die
leibliche Existenz ans so lange Zeit hinaus sichert, als es eigne Ziele erfordern;
mit andern Worten: es setzt Kapital voraus. Die Sozialdemokratin, behaupten
zwar, daß jeder (der tüchtig arbeitet) in ihrem Staate in kurzer Zeit so viel
erwerben würde, daß er die übrige Zeit seines Lebens davon lebe" könnte.
Dies setzt aber voraus, daß jetzt eine große Anzahl von Leuten nicht arbeitet,
die dann arbeiten müßte, um zu leben, und daß dadurch eine solche Menge
von Produkten erzeugt werden würde, daß die Existenz aller auf Jahrzehnte
hinaus gesichert erschiene. Wird nun unter Arbeit auch geistige Arbeit ver¬
standen, dann ist jene Behauptung offenbar falsch; wird geistige Arbeit nur
in beschränktem Maße als Arbeit aufgefaßt, dann erschiene jede geistige Fort¬
entwicklung unterbunden. Nur dadurch ist eine geistige Fortentwicklung im
höhern Sinne möglich, daß es eine Menge von Menschen giebt, die nicht
"arbeiten" müssen. Würde gerade der Jugend vorzugsweise die Physische
Arbeit vorbehalten sein, dann würde jedem jene geistige Durchbildung fehlen,


darauf angewiesen wäre, sich stets mit den andern zu vergleichen, und man
wird ermessen können, welche Unmasse von Neid- und Hnßgefühlen dadurch
erzeugt werden müßten. Dazu kommt noch, daß der sozialdemokratische Staat,
wie gesagt, zum Teil durch den Neid und Haß gegen Mehrbesitzende entstanden
gedacht werden müßte, daß also diese Gefühle von vornherein vorherrschen
würden oder wenigstens gestärkt erscheinen müßten. Unter diesen Umständen
wäre eine ruhige Entwicklung ganz undenkbar, der sozialdemokratische Staat
wäre zerrissen durch Parteien, und die Bürger, die sich in ihrem Verdienst
benachteiligt glaubten, würden auf eine Umwälzung der bestehenden Staats¬
ordnung hinarbeiten.

Also: entweder der sozialdemokratische Staat müßte die Macht haben,
jene Vergleichungsgefühle nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich (psychisch)
zu unterdrücken, oder er müßte jeden Anlaß hinwegräumen können, der ihnen
Nahrung bieten könnte. Weder das eine noch das andre ist denkbar.

Ein zweites, was dem sozialdemokratischen Staate entgegenarbeiten würde,
ist das Streben nach Selbständigkeit, das jeder Mensch bis zu einem gewissen
Grade besitzt. Die Selbständigkeit wurzelt darin, daß mau eigne Ziele hat
und sie verfolgen kann. Wer keine eignen Ziele hat, ist keine selbständige
Natur, wer sie nicht verfolgen kann, ist in seiner Selbständigkeit unterdrückt.
Man kann seine Selbständigkeit auch wahre», wenn man die Ziele andrer
unterstützt, aber dann muß man sie zu eignen gemacht haben, man muß ein
eignes Interesse für die Ziele andrer haben; denn wer die Ziele andrer unter¬
stützt, weil er muß oder auch nur, weil er selbst keine Ziele hat (keine selb¬
ständige Natur ist), ist unselbständig.

Aber die Selbständigkeit hat anch ihre wirtschaftliche Seite; es kann
niemand selbständig sein, der wirtschaftlich unselbständig ist. Daher setzt die
Selbständigkeit Privateigentum voraus, und zwar ein Privateigentum, das die
leibliche Existenz ans so lange Zeit hinaus sichert, als es eigne Ziele erfordern;
mit andern Worten: es setzt Kapital voraus. Die Sozialdemokratin, behaupten
zwar, daß jeder (der tüchtig arbeitet) in ihrem Staate in kurzer Zeit so viel
erwerben würde, daß er die übrige Zeit seines Lebens davon lebe« könnte.
Dies setzt aber voraus, daß jetzt eine große Anzahl von Leuten nicht arbeitet,
die dann arbeiten müßte, um zu leben, und daß dadurch eine solche Menge
von Produkten erzeugt werden würde, daß die Existenz aller auf Jahrzehnte
hinaus gesichert erschiene. Wird nun unter Arbeit auch geistige Arbeit ver¬
standen, dann ist jene Behauptung offenbar falsch; wird geistige Arbeit nur
in beschränktem Maße als Arbeit aufgefaßt, dann erschiene jede geistige Fort¬
entwicklung unterbunden. Nur dadurch ist eine geistige Fortentwicklung im
höhern Sinne möglich, daß es eine Menge von Menschen giebt, die nicht
„arbeiten" müssen. Würde gerade der Jugend vorzugsweise die Physische
Arbeit vorbehalten sein, dann würde jedem jene geistige Durchbildung fehlen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/207>, abgerufen am 26.08.2024.