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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

Jedenfalls können die Sozialdemokraten die Berechtigung ihres Staates
mir dadurch darlegen, daß sie beweise:?, daß die höchste mögliche Zufriedenheit
der Menschen nur auf der Grundlage sozialdemokratischer Prinzipien möglich
sei. Aber die Sozialisten sind Materialisten, ihre Lehre ist das Ergebnis der
naturwissenschaftlichen Anschauungen unsrer Zeit, sie kennen uur ein Gluck,
das meßbar ist wie Tuch mit der Elle. Sie vernachlässigen fast vollständig
die psychologische Seite des Menschen, und wo sie sie betonen, ist sie ihnen
nur Mittel, nie Ziel.

Diese psychologische Seite des Menschen soll nun im Folgenden nach ihrer
Verträglichkeit mit dem sozialdemokratischen Staate betrachtet werden. Dabei
wird fünferlei zu beachten sein: die Vergleichungsgefühle, das Streben nach
Selbständigkeit, der Egoismus, der Begriff des Bedürfnisses und der Ehrgeiz.

Man spricht so oft von der Berechtigung dieser oder jeuer Forderung,
ohne auch nur im geringsten den Begriff der Berechtigung zu untersuchen.
Wo die Berechtigung ihre Begründung in einem positiven Gesetz findet, ist
ihr Begriff klar, aber ihr Begriff wird sofort unklar, wo dieser positive Grund
fehlt. Nimmt man ein Naturrecht an, dann allerdings scheint die Berechtigung
wieder einen Sinn zu gewinnen, aber doch nur deshalb, weil nun die Unklar¬
heit auf das Naturrecht zurückgeschoben wird. Daß das Naturrecht nicht fest¬
steht, beweisen die verschiednen Systeme des Naturrechts, die sich jetzt überlebt
haben. Was aber den Inhalt der Naturrechts meistens auszumachen pflegte,
waren jene Grundbedürfnisse der menschlichen Natur, ohne die menschliches
Glück und menschliche Zufriedenheit in der Gesellschaft nicht denkbar sind. Die
Forderungen, jene Bedürfnisse zu befriedigen, Störungen davon zu verhüten,
erschienen als Forderungen der menschlichen Natur, als Naturrecht. Man
kann aber hier nicht vou einem Recht reden, sondern nur von einer Forderung
der Natur; Recht folgt nnr ans einer Rechtsnorm, nicht aus einem Natur¬
gesetz, sonst könnte man auch von einem Rechte des Steines zu fallen reden.
Auch die Sozialdemokratie nimmt uun meist Berechtigung und Recht in An¬
spruch im Sinne einer Forderung der menschlichen Natur und ist insofern
idealistisch Verfechterin der Menschenrechte, die ihr dazu dienen, ihren Materia¬
lismus zu verklären. Ich kann hier nicht die Unklarheit und Dehnbarkeit des
Begriffes der Menschenrechte darlegen und will daher nur darauf hinweisen,
daß, wo keine positive Norm vorhanden ist, mau sich uicht damit begnügen
kann, zu behaupten, etwas sei Recht, sondern doch wenigstens angeben muß,
weswegen etwas Recht sei, welches Ziel ein solches Recht und aus welchem
Grunde es dieses Ziel verfolge. Die Sozialdemokratie kann als Ziel und als
Grund ihrer "berechtigten" Forderungen nur die allgemeine Glückseligkeit an¬
führen. Die allgemeine Glückseligkeit ist null ein Begriff, der an Unklarheit
nichts zu wünschen übrig läßt, denn sowohl über die Mittel als über den
Inhalt der allgemeinen Glückseligkeit ist die Menschheit niemals einig gewesen.


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

Jedenfalls können die Sozialdemokraten die Berechtigung ihres Staates
mir dadurch darlegen, daß sie beweise:?, daß die höchste mögliche Zufriedenheit
der Menschen nur auf der Grundlage sozialdemokratischer Prinzipien möglich
sei. Aber die Sozialisten sind Materialisten, ihre Lehre ist das Ergebnis der
naturwissenschaftlichen Anschauungen unsrer Zeit, sie kennen uur ein Gluck,
das meßbar ist wie Tuch mit der Elle. Sie vernachlässigen fast vollständig
die psychologische Seite des Menschen, und wo sie sie betonen, ist sie ihnen
nur Mittel, nie Ziel.

Diese psychologische Seite des Menschen soll nun im Folgenden nach ihrer
Verträglichkeit mit dem sozialdemokratischen Staate betrachtet werden. Dabei
wird fünferlei zu beachten sein: die Vergleichungsgefühle, das Streben nach
Selbständigkeit, der Egoismus, der Begriff des Bedürfnisses und der Ehrgeiz.

Man spricht so oft von der Berechtigung dieser oder jeuer Forderung,
ohne auch nur im geringsten den Begriff der Berechtigung zu untersuchen.
Wo die Berechtigung ihre Begründung in einem positiven Gesetz findet, ist
ihr Begriff klar, aber ihr Begriff wird sofort unklar, wo dieser positive Grund
fehlt. Nimmt man ein Naturrecht an, dann allerdings scheint die Berechtigung
wieder einen Sinn zu gewinnen, aber doch nur deshalb, weil nun die Unklar¬
heit auf das Naturrecht zurückgeschoben wird. Daß das Naturrecht nicht fest¬
steht, beweisen die verschiednen Systeme des Naturrechts, die sich jetzt überlebt
haben. Was aber den Inhalt der Naturrechts meistens auszumachen pflegte,
waren jene Grundbedürfnisse der menschlichen Natur, ohne die menschliches
Glück und menschliche Zufriedenheit in der Gesellschaft nicht denkbar sind. Die
Forderungen, jene Bedürfnisse zu befriedigen, Störungen davon zu verhüten,
erschienen als Forderungen der menschlichen Natur, als Naturrecht. Man
kann aber hier nicht vou einem Recht reden, sondern nur von einer Forderung
der Natur; Recht folgt nnr ans einer Rechtsnorm, nicht aus einem Natur¬
gesetz, sonst könnte man auch von einem Rechte des Steines zu fallen reden.
Auch die Sozialdemokratie nimmt uun meist Berechtigung und Recht in An¬
spruch im Sinne einer Forderung der menschlichen Natur und ist insofern
idealistisch Verfechterin der Menschenrechte, die ihr dazu dienen, ihren Materia¬
lismus zu verklären. Ich kann hier nicht die Unklarheit und Dehnbarkeit des
Begriffes der Menschenrechte darlegen und will daher nur darauf hinweisen,
daß, wo keine positive Norm vorhanden ist, mau sich uicht damit begnügen
kann, zu behaupten, etwas sei Recht, sondern doch wenigstens angeben muß,
weswegen etwas Recht sei, welches Ziel ein solches Recht und aus welchem
Grunde es dieses Ziel verfolge. Die Sozialdemokratie kann als Ziel und als
Grund ihrer „berechtigten" Forderungen nur die allgemeine Glückseligkeit an¬
führen. Die allgemeine Glückseligkeit ist null ein Begriff, der an Unklarheit
nichts zu wünschen übrig läßt, denn sowohl über die Mittel als über den
Inhalt der allgemeinen Glückseligkeit ist die Menschheit niemals einig gewesen.


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[0204] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates Jedenfalls können die Sozialdemokraten die Berechtigung ihres Staates mir dadurch darlegen, daß sie beweise:?, daß die höchste mögliche Zufriedenheit der Menschen nur auf der Grundlage sozialdemokratischer Prinzipien möglich sei. Aber die Sozialisten sind Materialisten, ihre Lehre ist das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Anschauungen unsrer Zeit, sie kennen uur ein Gluck, das meßbar ist wie Tuch mit der Elle. Sie vernachlässigen fast vollständig die psychologische Seite des Menschen, und wo sie sie betonen, ist sie ihnen nur Mittel, nie Ziel. Diese psychologische Seite des Menschen soll nun im Folgenden nach ihrer Verträglichkeit mit dem sozialdemokratischen Staate betrachtet werden. Dabei wird fünferlei zu beachten sein: die Vergleichungsgefühle, das Streben nach Selbständigkeit, der Egoismus, der Begriff des Bedürfnisses und der Ehrgeiz. Man spricht so oft von der Berechtigung dieser oder jeuer Forderung, ohne auch nur im geringsten den Begriff der Berechtigung zu untersuchen. Wo die Berechtigung ihre Begründung in einem positiven Gesetz findet, ist ihr Begriff klar, aber ihr Begriff wird sofort unklar, wo dieser positive Grund fehlt. Nimmt man ein Naturrecht an, dann allerdings scheint die Berechtigung wieder einen Sinn zu gewinnen, aber doch nur deshalb, weil nun die Unklar¬ heit auf das Naturrecht zurückgeschoben wird. Daß das Naturrecht nicht fest¬ steht, beweisen die verschiednen Systeme des Naturrechts, die sich jetzt überlebt haben. Was aber den Inhalt der Naturrechts meistens auszumachen pflegte, waren jene Grundbedürfnisse der menschlichen Natur, ohne die menschliches Glück und menschliche Zufriedenheit in der Gesellschaft nicht denkbar sind. Die Forderungen, jene Bedürfnisse zu befriedigen, Störungen davon zu verhüten, erschienen als Forderungen der menschlichen Natur, als Naturrecht. Man kann aber hier nicht vou einem Recht reden, sondern nur von einer Forderung der Natur; Recht folgt nnr ans einer Rechtsnorm, nicht aus einem Natur¬ gesetz, sonst könnte man auch von einem Rechte des Steines zu fallen reden. Auch die Sozialdemokratie nimmt uun meist Berechtigung und Recht in An¬ spruch im Sinne einer Forderung der menschlichen Natur und ist insofern idealistisch Verfechterin der Menschenrechte, die ihr dazu dienen, ihren Materia¬ lismus zu verklären. Ich kann hier nicht die Unklarheit und Dehnbarkeit des Begriffes der Menschenrechte darlegen und will daher nur darauf hinweisen, daß, wo keine positive Norm vorhanden ist, mau sich uicht damit begnügen kann, zu behaupten, etwas sei Recht, sondern doch wenigstens angeben muß, weswegen etwas Recht sei, welches Ziel ein solches Recht und aus welchem Grunde es dieses Ziel verfolge. Die Sozialdemokratie kann als Ziel und als Grund ihrer „berechtigten" Forderungen nur die allgemeine Glückseligkeit an¬ führen. Die allgemeine Glückseligkeit ist null ein Begriff, der an Unklarheit nichts zu wünschen übrig läßt, denn sowohl über die Mittel als über den Inhalt der allgemeinen Glückseligkeit ist die Menschheit niemals einig gewesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/204>, abgerufen am 26.08.2024.