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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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bald die jungen Mädchen mit "du" anzureden, und wenn diese, namentlich
die aus anständiger Familie, dies auch anfangs peinlich empfinden, so haben
sie doch nicht den Mut, sichs zu verbitten. Die älter" Kollegen Hütten auch
kein Verständnis dafür. Verbittet sich ein Mädchen das "du," so wird sie
einfach ausgelacht, man kneift sie in die Wange und faßt sie um deu Leib,
sie wehrt sich, es entsteht eine kleine Balgerei, der Stärkere hält die Schwächere
fest, die Wehrlose wird still und weint, der "Kollege" läßt los und beschwichtigt,
um bei der nächsten Gelegenheit mit den Worten "Bist dn mir noch immer
böse?" das Spiel von vorn anzufangen. Das thut nicht einer, auch nicht
alle, denn es giebt, wie gesagt, auch am Theater ehrenvolle Ausnahmen von
Männern, aber es thnns mehrere, und dem steten Wiederholen dieser Zu¬
dringlichkeit gegenüber erlahmt mich und nach der Widerstand des Mädchens.
Es danert nicht lange, so wehrt sie sich nicht mehr, sondern läßt sich dann
mit "du" anrede", läßt sich ohne Widerstand von jedem betasten, auf die
Schulter klopfen, die Wange streicheln, bei der Hand nehmen und mit dreisten
Redensarten unterhalten. Die Unterhaltungen bewegen sich meist auf dem
Gebiete von Zweideutigkeiten, ja es dreht sich einem manchmal das Herz im
Leibe herum, wenn man sehen muß, wie schöne, talentvolle junge Damen, die
durch Darstellung einer Julia oder eiues Gretchens den Zuhörer in poetische
Ekstase versetzen, soweit heruntergekommen sind, daß sie im Verkehr mit den
Herren "Kollegen" die nichtswttrdigsten Zweideutigkeiten ohne Scham belachen.
Wie diese Art von Verkehr auf Frauen und Mädchen einwirken muß, wie sie
das Gemütsleben vergiftet, wie sie durch Untergrabung aller edlern Empfin¬
dungen die Fähigkeit eines künftigen, reinern Glücks unwiderbringlich vernichtet,
das läßt sich leichter denken als beschreiben.

Aber selbst auf die künstlerische Thätigkeit wirkt die Auflösung aller guten
Sitten im Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern nachteilig ein. Denn was
im Leben gute Sitte ist. ist es auch auf der Bühne, und wie es im Leben
unschicklich ist, sich beim Reden fortwährend gegenseitig anzufassen, seis an der
Hand oder am Arm oder auch bloß am Rock, so ist es das auch auf der Bühne,
mit Ausnahme der Fülle, wo das Stück eine Vernachlässigung des Anstandes
geradezu erfordert, wobei eben ein andrer Gesichtspunkt in seine Rechte tritt.
Man betrachte nur die beliebigen Vorstellungen, namentlich Opernvorstelluugen,
wie alsbald bei Zwiegesprächen der Sänger die Sängerin anzufassen sucht,
entweder an der 5>and. oder um den Leib, gleichviel, ob es durch deu Inhalt
des Gesprächs erfordert wird oder nicht. Da bewegen sich denn die beiden um
einander herum, sich stets betastend und sich die Hände reichend, in der Mei¬
nung, so erfordere es ein gutes Spiel. Ein Beispiel für alle. Ich sah einmal
auf der Krollschen Bühne in Berlin die Oper "Die beiden Schutze" von
Lortzing. Einer der beiden Schütze" trifft mit seiner ihm zugedachten ^an
öusamme". die ihn aber "och "icht kennt. Er giebt sich, um unerkannt prnM


bald die jungen Mädchen mit „du" anzureden, und wenn diese, namentlich
die aus anständiger Familie, dies auch anfangs peinlich empfinden, so haben
sie doch nicht den Mut, sichs zu verbitten. Die älter» Kollegen Hütten auch
kein Verständnis dafür. Verbittet sich ein Mädchen das „du," so wird sie
einfach ausgelacht, man kneift sie in die Wange und faßt sie um deu Leib,
sie wehrt sich, es entsteht eine kleine Balgerei, der Stärkere hält die Schwächere
fest, die Wehrlose wird still und weint, der „Kollege" läßt los und beschwichtigt,
um bei der nächsten Gelegenheit mit den Worten „Bist dn mir noch immer
böse?" das Spiel von vorn anzufangen. Das thut nicht einer, auch nicht
alle, denn es giebt, wie gesagt, auch am Theater ehrenvolle Ausnahmen von
Männern, aber es thnns mehrere, und dem steten Wiederholen dieser Zu¬
dringlichkeit gegenüber erlahmt mich und nach der Widerstand des Mädchens.
Es danert nicht lange, so wehrt sie sich nicht mehr, sondern läßt sich dann
mit „du" anrede», läßt sich ohne Widerstand von jedem betasten, auf die
Schulter klopfen, die Wange streicheln, bei der Hand nehmen und mit dreisten
Redensarten unterhalten. Die Unterhaltungen bewegen sich meist auf dem
Gebiete von Zweideutigkeiten, ja es dreht sich einem manchmal das Herz im
Leibe herum, wenn man sehen muß, wie schöne, talentvolle junge Damen, die
durch Darstellung einer Julia oder eiues Gretchens den Zuhörer in poetische
Ekstase versetzen, soweit heruntergekommen sind, daß sie im Verkehr mit den
Herren „Kollegen" die nichtswttrdigsten Zweideutigkeiten ohne Scham belachen.
Wie diese Art von Verkehr auf Frauen und Mädchen einwirken muß, wie sie
das Gemütsleben vergiftet, wie sie durch Untergrabung aller edlern Empfin¬
dungen die Fähigkeit eines künftigen, reinern Glücks unwiderbringlich vernichtet,
das läßt sich leichter denken als beschreiben.

Aber selbst auf die künstlerische Thätigkeit wirkt die Auflösung aller guten
Sitten im Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern nachteilig ein. Denn was
im Leben gute Sitte ist. ist es auch auf der Bühne, und wie es im Leben
unschicklich ist, sich beim Reden fortwährend gegenseitig anzufassen, seis an der
Hand oder am Arm oder auch bloß am Rock, so ist es das auch auf der Bühne,
mit Ausnahme der Fülle, wo das Stück eine Vernachlässigung des Anstandes
geradezu erfordert, wobei eben ein andrer Gesichtspunkt in seine Rechte tritt.
Man betrachte nur die beliebigen Vorstellungen, namentlich Opernvorstelluugen,
wie alsbald bei Zwiegesprächen der Sänger die Sängerin anzufassen sucht,
entweder an der 5>and. oder um den Leib, gleichviel, ob es durch deu Inhalt
des Gesprächs erfordert wird oder nicht. Da bewegen sich denn die beiden um
einander herum, sich stets betastend und sich die Hände reichend, in der Mei¬
nung, so erfordere es ein gutes Spiel. Ein Beispiel für alle. Ich sah einmal
auf der Krollschen Bühne in Berlin die Oper „Die beiden Schutze» von
Lortzing. Einer der beiden Schütze» trifft mit seiner ihm zugedachten ^an
öusamme». die ihn aber »och »icht kennt. Er giebt sich, um unerkannt prnM


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/183>, abgerufen am 26.08.2024.