Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.Litteratur von Wichtigkeit sein werden. Aber auch wer nicht als Gelehrter das Buch in die Borausgeschickt ist deu Briefen die eigne Lebensbeschreibung Emil Brauns Sonderbare Gestalten von Heinrich Seidel. Leipzig, A. G. Liebestmd, t8!N Im vorigen Jahre hat Heinrich Seidel seinen braven Leberecht Hühnchen Litteratur von Wichtigkeit sein werden. Aber auch wer nicht als Gelehrter das Buch in die Borausgeschickt ist deu Briefen die eigne Lebensbeschreibung Emil Brauns Sonderbare Gestalten von Heinrich Seidel. Leipzig, A. G. Liebestmd, t8!N Im vorigen Jahre hat Heinrich Seidel seinen braven Leberecht Hühnchen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289919"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_422" prev="#ID_421"> von Wichtigkeit sein werden. Aber auch wer nicht als Gelehrter das Buch in die<lb/> Hand nimmt, wird seine Freude daran haben. Tritt uns doch die Wissenschaft,<lb/> die sich heute in den tiefsten Geheimnissen der Sprachgeschichte zu vergraben und<lb/> über die dunkelsten Rätsel der Lautentwicklung zu grübeln liebt, hier in ihren jungen,<lb/> lebens- und arbeitsfrvhen Anfängen entgegen, wo man aus dem reichen Quell der<lb/> alten, neu entdeckten Dichtung aus dem Vollen schöpfen und für die Allgemeinheit<lb/> schaffen konnte. Jeder Leser wird von der starken und tiefen Begeisterung für<lb/> die gemeinsame Thätigkeit, die das ganze Buch durchweht, mit entzündet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_423"> Borausgeschickt ist deu Briefen die eigne Lebensbeschreibung Emil Brauns<lb/> aus einem Gesuch an den Herzog Ernst 1. von Koburg-Gotha vom Jahre 183.?,<lb/> am Schlüsse hat der Herausgeber eine Reihe von Anmerkungen teils persönliche»,<lb/> teils litterargeschichtlichen Inhalts beigegeben, die kurz zusammenfassen, was zum<lb/> Bersiäudnis der Briefe notwendig ist. Zur besondern Zierde gereicht dem hübsch<lb/> ausgestatteten Bändchen ein in Heliogravüre vervielfältigtes Brustbild Emil Brauns,<lb/> das freilich nicht den Jüngling zeigt, dessen lebhaften Geist und bewegliches Gemüt<lb/> die Briefe wiederspiegeln, sondern den gereisten Forscher späterer Jahre.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Sonderbare Gestalten von Heinrich Seidel. Leipzig, A. G. Liebestmd, t8!N</head><lb/> <p xml:id="ID_424" next="#ID_425"> Im vorigen Jahre hat Heinrich Seidel seinen braven Leberecht Hühnchen<lb/> gerührt und rührend zu Grabe getragen. Nun sührt er uns neue „sonderbare"<lb/> Gestalten vor. Seine Form hat sich nicht wesentlich verändert, wenn er auch<lb/> diesmal die sür einen Erzähler unentbehrliche Kunst der Spannung in einem bis¬<lb/> her bei ihm nicht bekannten Maße offenbart. Es ist wieder namentlich der Idyllen-<lb/> dichter, der uns mit seiner Freude am Kleinen, mit seiner sorgfältigen, behaglichen<lb/> Einzelmnlerei erfreut und sie durch sein klares Auge, seine gesunde und innige<lb/> Eiupfiuduug in die dichterische Region erhebt. Kleine Stimmungsbilder aus Wald<lb/> und Feld, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, ans dem Leben der Gro߬<lb/> städter, in- und außerhalb Berlins, Schilderungen museumnrtiger Juuggeselleu-<lb/> wvhuungen folgen einander am Faden schlichter Erfindungen und fesseln durch die<lb/> Reinheit der Sprache, durch den heitern Grundton des Erzählers, dem es auch<lb/> uicht nu Witz und bescheidner Satire mangelt. Von den sechs Stücken des<lb/> Bnudcheus ordnen sich nur die zwei ersten dem Titel „Sonderbare Gestalten"<lb/> zwanglos unter. Der „Schwarze See" aus dem Jahre 1871 ist wohl das schwächste<lb/> Stück, interessant nur, weil es die ursprünglich so einseitige Neigung des Dichters<lb/> zur Schilderung ruhender Zuständlichkeit bezeugt. Hier nehmen die Beschreibungen<lb/> im Verhältnis zu der spät einsetzenden eigentlichen Erzählung doch zu viel Raum<lb/> el«. Die Einseitigkeit des Dichters zeigt sich auch in seiner unfreien Satzfügnng,<lb/> die in eintöniger Weise Bemerkung an Bemerkung fligt und des nötigen Wechsels<lb/> entbehrt. Lebhafter ist der um siebzehn Jahre jüngere „Herr Omnia" ausgeführt;<lb/> man möchte es ein Reisefenilleton nennen. Die Sonderbarkeit des Herrn Omnia,<lb/> der bürgerlich Schermnnsel heißt und seinen lateinischen Namen daher hat, daß er<lb/> omnia. 8<z(zum xnrtat, ein wanderndes Hotel ist, in zahllosen Taschen die anspruchs¬<lb/> volle» Hilfsmittel eiues touristischen Großstädters mit sich sührt, weiß Seidel<lb/> schließlich in sehr heiterer Weise novellistisch zu verwerten. Anspruchslos und doch<lb/> recht anmutig ist das Stimmungsbild „Lorelei"; schnurrige Burlesken sind die<lb/> zwei folgende» Stücke „Etwas vom Boden" und die „Thüringischen Knrtoffeltlöse."<lb/> Das hübscheste Stück aber ist ohne Zweifel das Märchen „WaldsrNuleiu Hechta,"<lb/> das mit vielem Glück den echten Märcheuton trifft, ohne dabei wie Banmbachs<lb/> Märchen ein geistreich-syuibolisches Spiel zu treiben. Ob, der traurige Schluß des</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0151]
Litteratur
von Wichtigkeit sein werden. Aber auch wer nicht als Gelehrter das Buch in die
Hand nimmt, wird seine Freude daran haben. Tritt uns doch die Wissenschaft,
die sich heute in den tiefsten Geheimnissen der Sprachgeschichte zu vergraben und
über die dunkelsten Rätsel der Lautentwicklung zu grübeln liebt, hier in ihren jungen,
lebens- und arbeitsfrvhen Anfängen entgegen, wo man aus dem reichen Quell der
alten, neu entdeckten Dichtung aus dem Vollen schöpfen und für die Allgemeinheit
schaffen konnte. Jeder Leser wird von der starken und tiefen Begeisterung für
die gemeinsame Thätigkeit, die das ganze Buch durchweht, mit entzündet werden.
Borausgeschickt ist deu Briefen die eigne Lebensbeschreibung Emil Brauns
aus einem Gesuch an den Herzog Ernst 1. von Koburg-Gotha vom Jahre 183.?,
am Schlüsse hat der Herausgeber eine Reihe von Anmerkungen teils persönliche»,
teils litterargeschichtlichen Inhalts beigegeben, die kurz zusammenfassen, was zum
Bersiäudnis der Briefe notwendig ist. Zur besondern Zierde gereicht dem hübsch
ausgestatteten Bändchen ein in Heliogravüre vervielfältigtes Brustbild Emil Brauns,
das freilich nicht den Jüngling zeigt, dessen lebhaften Geist und bewegliches Gemüt
die Briefe wiederspiegeln, sondern den gereisten Forscher späterer Jahre.
Sonderbare Gestalten von Heinrich Seidel. Leipzig, A. G. Liebestmd, t8!N
Im vorigen Jahre hat Heinrich Seidel seinen braven Leberecht Hühnchen
gerührt und rührend zu Grabe getragen. Nun sührt er uns neue „sonderbare"
Gestalten vor. Seine Form hat sich nicht wesentlich verändert, wenn er auch
diesmal die sür einen Erzähler unentbehrliche Kunst der Spannung in einem bis¬
her bei ihm nicht bekannten Maße offenbart. Es ist wieder namentlich der Idyllen-
dichter, der uns mit seiner Freude am Kleinen, mit seiner sorgfältigen, behaglichen
Einzelmnlerei erfreut und sie durch sein klares Auge, seine gesunde und innige
Eiupfiuduug in die dichterische Region erhebt. Kleine Stimmungsbilder aus Wald
und Feld, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, ans dem Leben der Gro߬
städter, in- und außerhalb Berlins, Schilderungen museumnrtiger Juuggeselleu-
wvhuungen folgen einander am Faden schlichter Erfindungen und fesseln durch die
Reinheit der Sprache, durch den heitern Grundton des Erzählers, dem es auch
uicht nu Witz und bescheidner Satire mangelt. Von den sechs Stücken des
Bnudcheus ordnen sich nur die zwei ersten dem Titel „Sonderbare Gestalten"
zwanglos unter. Der „Schwarze See" aus dem Jahre 1871 ist wohl das schwächste
Stück, interessant nur, weil es die ursprünglich so einseitige Neigung des Dichters
zur Schilderung ruhender Zuständlichkeit bezeugt. Hier nehmen die Beschreibungen
im Verhältnis zu der spät einsetzenden eigentlichen Erzählung doch zu viel Raum
el«. Die Einseitigkeit des Dichters zeigt sich auch in seiner unfreien Satzfügnng,
die in eintöniger Weise Bemerkung an Bemerkung fligt und des nötigen Wechsels
entbehrt. Lebhafter ist der um siebzehn Jahre jüngere „Herr Omnia" ausgeführt;
man möchte es ein Reisefenilleton nennen. Die Sonderbarkeit des Herrn Omnia,
der bürgerlich Schermnnsel heißt und seinen lateinischen Namen daher hat, daß er
omnia. 8<z(zum xnrtat, ein wanderndes Hotel ist, in zahllosen Taschen die anspruchs¬
volle» Hilfsmittel eiues touristischen Großstädters mit sich sührt, weiß Seidel
schließlich in sehr heiterer Weise novellistisch zu verwerten. Anspruchslos und doch
recht anmutig ist das Stimmungsbild „Lorelei"; schnurrige Burlesken sind die
zwei folgende» Stücke „Etwas vom Boden" und die „Thüringischen Knrtoffeltlöse."
Das hübscheste Stück aber ist ohne Zweifel das Märchen „WaldsrNuleiu Hechta,"
das mit vielem Glück den echten Märcheuton trifft, ohne dabei wie Banmbachs
Märchen ein geistreich-syuibolisches Spiel zu treiben. Ob, der traurige Schluß des
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