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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wer hat Recht?

Und wenn sich die Sozialdemokraten durch die Erklärung, daß alle bürgerlichen
Parteien als eine einzige reaktionäre Masse anzusehen und zu bekämpfen seien,
dieses Wahnsinns und dieses Verbrechens bereits schuldig gemacht haben, so
folgt daraus nicht, daß wir es ihnen nachmachen müssen, sondern das Bei¬
spiel des alten Menenius Agrippa bleibt für alle Zeiten und auch für diesen
Fall giltig. Und wenn ein Führer, wie Vollmar, einen versöhnlichen Ton
anschlägt, so haben wir das auf jeden Fall als ein erfreuliches Zeichen zu
begrüßen. Spricht er uicht aufrichtig und ist seine Rede nnr ein Zugeständnis
an die unüberwindliche Macht der bürgerlichen Parteien (was in diesem Falle
zu vermuten wir übrigens gar nicht berechtigt sind), so wäre schon das sehr
erfreulich; spricht er aber aufrichtig, wie ers meint, dann wäre es um so er¬
freulicher, gleichviel, welchen Anklang seine Worte bei seinen Parteigenossen
finden; Babel und Liebknecht haben ihn ja allerdings schon "desavouirt." El"
großer Wandel der Ansichten von Millionen braucht länger Zeit als vier
Wochen, um sich Bahn zu brechen.

Soll die Sklaverei nicht wieder eingeführt werden, und follen die beiden
einander feindlich gegenüberstehenden Klassen wieder zu einem gesunden Volks¬
körper verwachsen, dessen Glieder, in heiliger Liebe zum Vaterlande verbunden,
für dessen Wohl und Größe in freudiger Arbeit zusammenwirken, dann darf
der Genesungsprozeß nicht allzuoft durch Kundgebungen wie die des Verfassers
gestört werden, deren einziger Erfolg doch nur die Wiederaufachuug des gegen¬
seitigen Hasses sein kaum. Ein Artikel wie der seinige verbaut die Verständigung
um so mehr, als er eine Menge Mißverständnisse enthält. Diese ausführlich
aufzuklären, fühlen wir uns schon darum nicht veranlaßt, weil es indirekt
längst geschehen ist, in den mancherlei sozialpolitischen Artikeln der Grenzboten.
Aber ein paar starke Ausdrücke, zu denen den Verfasser seine üble Laune
hingerissen hat, und die zugleich eine unverständliche Auffassung bekunden,
möchten wir doch kurz zurückweisen.

Ich bestreite ganz entschieden, daß unsre soziale Gesetzgebung "ohne die
Mitwirkung der Sozialdemokraten" zu stände gekommen sei, behaupte vielmehr,
daß, wenn nicht die Sozialdemokraten der Unzufriedenheit der Arbeiter zu
einem sehr kräftigen Ausdruck verholfen hätten, Weder Kaiser Wilhelm I. noch
Bismarck noch irgend ein andrer Staatsmann an eine sozialpolitische Gesetz¬
gebung gedacht hätten. "Berserkerlogik" nennt es der Verfasser, wenn an den
richtigen Satz, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums sei, die Behauptung
geknüpft wird, "daß allgemeine nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft
möglich sei, und daß darum auch das Arbeitsprodukt der Gesellschaft gehöre."
Dann muß ich mich ebenfalls als Verserker bekennen. Ich habe keine Vor¬
stellung davon, wie ein isolirter Wilder oder Einsiedler allgemein nutz¬
bringende Arbeit zu leisten imstande sein könnte, und ich habe immer geglaubt,
mich zu einer Zeit, wo ich noch gar nichts von Sozialdemokratie wußte,


Wer hat Recht?

Und wenn sich die Sozialdemokraten durch die Erklärung, daß alle bürgerlichen
Parteien als eine einzige reaktionäre Masse anzusehen und zu bekämpfen seien,
dieses Wahnsinns und dieses Verbrechens bereits schuldig gemacht haben, so
folgt daraus nicht, daß wir es ihnen nachmachen müssen, sondern das Bei¬
spiel des alten Menenius Agrippa bleibt für alle Zeiten und auch für diesen
Fall giltig. Und wenn ein Führer, wie Vollmar, einen versöhnlichen Ton
anschlägt, so haben wir das auf jeden Fall als ein erfreuliches Zeichen zu
begrüßen. Spricht er uicht aufrichtig und ist seine Rede nnr ein Zugeständnis
an die unüberwindliche Macht der bürgerlichen Parteien (was in diesem Falle
zu vermuten wir übrigens gar nicht berechtigt sind), so wäre schon das sehr
erfreulich; spricht er aber aufrichtig, wie ers meint, dann wäre es um so er¬
freulicher, gleichviel, welchen Anklang seine Worte bei seinen Parteigenossen
finden; Babel und Liebknecht haben ihn ja allerdings schon „desavouirt." El»
großer Wandel der Ansichten von Millionen braucht länger Zeit als vier
Wochen, um sich Bahn zu brechen.

Soll die Sklaverei nicht wieder eingeführt werden, und follen die beiden
einander feindlich gegenüberstehenden Klassen wieder zu einem gesunden Volks¬
körper verwachsen, dessen Glieder, in heiliger Liebe zum Vaterlande verbunden,
für dessen Wohl und Größe in freudiger Arbeit zusammenwirken, dann darf
der Genesungsprozeß nicht allzuoft durch Kundgebungen wie die des Verfassers
gestört werden, deren einziger Erfolg doch nur die Wiederaufachuug des gegen¬
seitigen Hasses sein kaum. Ein Artikel wie der seinige verbaut die Verständigung
um so mehr, als er eine Menge Mißverständnisse enthält. Diese ausführlich
aufzuklären, fühlen wir uns schon darum nicht veranlaßt, weil es indirekt
längst geschehen ist, in den mancherlei sozialpolitischen Artikeln der Grenzboten.
Aber ein paar starke Ausdrücke, zu denen den Verfasser seine üble Laune
hingerissen hat, und die zugleich eine unverständliche Auffassung bekunden,
möchten wir doch kurz zurückweisen.

Ich bestreite ganz entschieden, daß unsre soziale Gesetzgebung „ohne die
Mitwirkung der Sozialdemokraten" zu stände gekommen sei, behaupte vielmehr,
daß, wenn nicht die Sozialdemokraten der Unzufriedenheit der Arbeiter zu
einem sehr kräftigen Ausdruck verholfen hätten, Weder Kaiser Wilhelm I. noch
Bismarck noch irgend ein andrer Staatsmann an eine sozialpolitische Gesetz¬
gebung gedacht hätten. „Berserkerlogik" nennt es der Verfasser, wenn an den
richtigen Satz, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums sei, die Behauptung
geknüpft wird, „daß allgemeine nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft
möglich sei, und daß darum auch das Arbeitsprodukt der Gesellschaft gehöre."
Dann muß ich mich ebenfalls als Verserker bekennen. Ich habe keine Vor¬
stellung davon, wie ein isolirter Wilder oder Einsiedler allgemein nutz¬
bringende Arbeit zu leisten imstande sein könnte, und ich habe immer geglaubt,
mich zu einer Zeit, wo ich noch gar nichts von Sozialdemokratie wußte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/119>, abgerufen am 26.08.2024.