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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Gin Streifzug durch das Gestrüpp der Frauenfrage

den Widerstand, auf den sie bei ihrer Umgebung stoßen. Das begünstigt ihre
Neigung, zu grübeln, zu vergleichen, das Schicksal mit Fragen und Vorwürfen
zu bestürmen, und sie haben leider viel Zeit zu diesen gefährlichen Dingen
übrig. Sie befinden sich also durchaus nicht in jenem Zustande der Glück¬
seligkeit, den Fernerstehende den jungen Mädchen in dieser gesellschaftlichen und
Lebensstellung anzudichten geneigt sind, denn: ,,der Himmel ist kein Ort,
sondern Gemütsruhe." Wohl jedem, an den Pflichten herantreten und der
uicht nötig hat, nach ihnen zu suchen! Nur kurz ist der schöne Jugendrausch,
in dem es sich ja bloß um den Zeitpunkt handeln kann, den das Glück wählen
wird, um vom Himmel herabzufallen. Bald verwandelt sich dies Wann in
ein unheimlich wachsendes Warum, und wem anch hierauf keine Autwort wird,
der macht selbst ein Wie daraus und versucht, sich auf irgend eine Art mit
dem Leben abzufinden. Mit den Schwierigkeiten aber, die den Mädchen dabei
entgegentreten, wächst auch der Groll gegen die, die das Leben länger und
besser kannten als sie und doch nichts versuchten, um sie nud andre gegen
solche Enttäuschungen zu sichern. Sie nehmen ihn auf, den Kampf, beseelt
von dem Wunsche, ihn denen, die mit und nach ihnen streben, zu ersparen oder
doch zu erleichtern. Diese Übergänge führen durch so schmerzliche Gemüts¬
bewegungen, daß es uicht zu verwundern ist, wenn sie sich bei lebhafter" Na¬
turen in geradezu krankhaften Erscheinungen äußern. Ist es doch besonders
für die zum Heiraten erzogenen, als würden sie beim Verlassen der Jugend¬
jahre einem Gespenst überliefert, das ihnen Tag und Nacht zuraunt: die Er¬
füllung deines Berufes ist dir versagt geblieben, die Frist ist verstrichen, die
zwanzig, vierzig oder mehr Jahre, die du uoch zu leben hast, werden ein
Vegetiren sein.

Goethe sagt im Wilhelm Meister: "Seelenleiden, in die wir durch Un¬
glück oder eigne Fehler geraten, zu Heilen, vermag der Verstand nichts, die
Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Thätigkeit hingegen alles." Und
später: ,,Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt, als zweckmäßige
Thätigkeit." Das und ähnliches hört und liest mau so oft, und mancher ernst¬
gemeinte Anlauf wird genommen, um es zur That werden zu lassen. Aber
ein Mädchen, das nicht ganz zurückgezogen oder in besonders günstigen Ver¬
hältnissen lebt, bedarf eines ungewöhnlichen Aufwandes von Energie, wenn es
sich durch die vielerlei Anforderungen, die schon der intimere Verkehr an sie
stellt, uicht von der Verfolgung eines, noch dazu andern uicht sichtbaren, oder
doch nicht einleuchtenden Zieles ablenken lassen will. "Mein Lebensbaum wird
mir zu Zündhölzchen zersplittert; jeder nimmt sich eins," klagt eine Leidens¬
gefährtin. Mit den Jahren lassen diese Anforderungen nach, und auch andres
wird überwunden, das der Sammlung hinderlich war. "Glücklich, wer dar¬
über hinaus ist über das böse Wesen und kein unruhiges Herz mehr hat,"
läßt Gottfried Keller die Magd im Martin Salauder sagen. Ja, gewiß


Grenzlwten II 1891 12
Gin Streifzug durch das Gestrüpp der Frauenfrage

den Widerstand, auf den sie bei ihrer Umgebung stoßen. Das begünstigt ihre
Neigung, zu grübeln, zu vergleichen, das Schicksal mit Fragen und Vorwürfen
zu bestürmen, und sie haben leider viel Zeit zu diesen gefährlichen Dingen
übrig. Sie befinden sich also durchaus nicht in jenem Zustande der Glück¬
seligkeit, den Fernerstehende den jungen Mädchen in dieser gesellschaftlichen und
Lebensstellung anzudichten geneigt sind, denn: ,,der Himmel ist kein Ort,
sondern Gemütsruhe." Wohl jedem, an den Pflichten herantreten und der
uicht nötig hat, nach ihnen zu suchen! Nur kurz ist der schöne Jugendrausch,
in dem es sich ja bloß um den Zeitpunkt handeln kann, den das Glück wählen
wird, um vom Himmel herabzufallen. Bald verwandelt sich dies Wann in
ein unheimlich wachsendes Warum, und wem anch hierauf keine Autwort wird,
der macht selbst ein Wie daraus und versucht, sich auf irgend eine Art mit
dem Leben abzufinden. Mit den Schwierigkeiten aber, die den Mädchen dabei
entgegentreten, wächst auch der Groll gegen die, die das Leben länger und
besser kannten als sie und doch nichts versuchten, um sie nud andre gegen
solche Enttäuschungen zu sichern. Sie nehmen ihn auf, den Kampf, beseelt
von dem Wunsche, ihn denen, die mit und nach ihnen streben, zu ersparen oder
doch zu erleichtern. Diese Übergänge führen durch so schmerzliche Gemüts¬
bewegungen, daß es uicht zu verwundern ist, wenn sie sich bei lebhafter» Na¬
turen in geradezu krankhaften Erscheinungen äußern. Ist es doch besonders
für die zum Heiraten erzogenen, als würden sie beim Verlassen der Jugend¬
jahre einem Gespenst überliefert, das ihnen Tag und Nacht zuraunt: die Er¬
füllung deines Berufes ist dir versagt geblieben, die Frist ist verstrichen, die
zwanzig, vierzig oder mehr Jahre, die du uoch zu leben hast, werden ein
Vegetiren sein.

Goethe sagt im Wilhelm Meister: „Seelenleiden, in die wir durch Un¬
glück oder eigne Fehler geraten, zu Heilen, vermag der Verstand nichts, die
Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Thätigkeit hingegen alles." Und
später: ,,Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt, als zweckmäßige
Thätigkeit." Das und ähnliches hört und liest mau so oft, und mancher ernst¬
gemeinte Anlauf wird genommen, um es zur That werden zu lassen. Aber
ein Mädchen, das nicht ganz zurückgezogen oder in besonders günstigen Ver¬
hältnissen lebt, bedarf eines ungewöhnlichen Aufwandes von Energie, wenn es
sich durch die vielerlei Anforderungen, die schon der intimere Verkehr an sie
stellt, uicht von der Verfolgung eines, noch dazu andern uicht sichtbaren, oder
doch nicht einleuchtenden Zieles ablenken lassen will. „Mein Lebensbaum wird
mir zu Zündhölzchen zersplittert; jeder nimmt sich eins," klagt eine Leidens¬
gefährtin. Mit den Jahren lassen diese Anforderungen nach, und auch andres
wird überwunden, das der Sammlung hinderlich war. „Glücklich, wer dar¬
über hinaus ist über das böse Wesen und kein unruhiges Herz mehr hat,"
läßt Gottfried Keller die Magd im Martin Salauder sagen. Ja, gewiß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/97>, abgerufen am 24.07.2024.