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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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einsehen, brauchen, um die Einsicht auch in das ihnen anvertraute Geschlecht
zu verpflanzen, nur durch Beispiel und durch Pflege bestimmter Herzens- und
Verstandeskräfte zu wirken. Schwieriger ist es, das Mädchen so zu erziehen
und zu bilden, daß es beiderlei Anforderungen gerecht werden kann; denu
beim Manne schließen die Pflichterfüllung im Hause und die in der großen Welt
einander nicht aus, während dies bei der Frau mit seltenen Ausnahmen der Fall
ist. Die Ausbildung der Mädchen soll also, ohne deshalb die Einheitlichkeit ein¬
zubüßen, zwei Möglichkeiten als Ziel vor Augen haben, die Selbständigkeit
und die Unselbständigkeit, zwischen denen oft erst entschieden wird, wenn die
Erziehung längst vollendet ist. Deshalb muß das Hauptgewicht bei dieser
auf die Eigenschaften gelegt werden, deren ein Mädchen, oder eigentlich jeder
Mensch, vor allen andern in jeder Lebensstellung bedarf. Es muß das Ge¬
müt gepflegt, der Verstand geschärft und strenge Pflichterfüllung zum obersten
Gesetz erhoben werdeu. Der Mangel an Ernst und Strenge zieht in den
Menschen den Dilettantismus groß, den künstlerischen nicht nur, sondern auch
den seelischen; sie üben ihre Tugenden wie ihre Talente nur dann aus, wenn sie
dazu aufgelegt sind. Bei Knaben sollte mehr, als es meist geschieht, der Sinn
für Schönheit und Wichtigkeit des Familienlebens geweckt werden; ihr Anteil
nu den Genüssen, die es bietet, müßte zu ihren Leistungen an Gefälligkeiten,
kleinen Ritterdiensten und dergleichen in einem bestimmten Verhältnis stehn.
Neben der früh bei ihnen erwachenden Erkenntnis, daß das weibliche Geschlecht
nur zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf der Welt ist, müßte die zweite
gepflegt werden, daß sie nicht nur dem Mädchen, in das sie gerade verliebt
siud, sondern daß auch sie jedem Wesen, von dem sie etwas annehmen, das
ihnen etwas leistet, zu Gegendiensten, freilich sehr verschiedner Natur, ver¬
pflichtet sind. Ferner müßte jeden, Kinde mit der Zeit klar werden, daß man
nicht bloß lernt, weil die andern auch lernen, oder um später erwerbe" zu
können, oder um sich nicht infolge von Unkenntnis Blößen zu geben, sondern
auch, weil durch lebendiges Lernen der Mensch besser wird und seine Mit¬
menschen fördert. Wer von dieser Auffassung durchdrungen ist, macht gewiß
von diesem Standpunkt ans keinen Unterschied zwischen Mann und Frau.
Bei beiden muß zunächst der Grund zur harmonischen Ausbildung des
Menschen als solchen gelegt werden, sowohl weil sich die Neigung zu einer
besondern Ausbildung erst später zeigt, als auch weil ein schlecht oder nicht
erzogener Mensch immer weniger wert ist als andre, mag er noch so viel
gelernt haben. Die Ausbildung für den zukünftigen Beruf erscheint erst in
zweiter Linie wichtig. Nun ist zwar richtig, daß ein Mädchen, um in seinem
eigentlichen Beruf tüchtig zu sein, sich keine wissenschaftlichen Kenntnisse an¬
zueignen braucht, aber auch daß es diesen Beruf umso vollkommener erfüllen
wird, je wohlerzogener, gebildeter und unterrichteter es ist. Ein Blaustrumpf
ist ja uicht jede Frau, die viel gelernt hat, sondern nur eine, die mehr gelernt


<Lin Streifzug durch das Gestrüpp der Frauenfrage

einsehen, brauchen, um die Einsicht auch in das ihnen anvertraute Geschlecht
zu verpflanzen, nur durch Beispiel und durch Pflege bestimmter Herzens- und
Verstandeskräfte zu wirken. Schwieriger ist es, das Mädchen so zu erziehen
und zu bilden, daß es beiderlei Anforderungen gerecht werden kann; denu
beim Manne schließen die Pflichterfüllung im Hause und die in der großen Welt
einander nicht aus, während dies bei der Frau mit seltenen Ausnahmen der Fall
ist. Die Ausbildung der Mädchen soll also, ohne deshalb die Einheitlichkeit ein¬
zubüßen, zwei Möglichkeiten als Ziel vor Augen haben, die Selbständigkeit
und die Unselbständigkeit, zwischen denen oft erst entschieden wird, wenn die
Erziehung längst vollendet ist. Deshalb muß das Hauptgewicht bei dieser
auf die Eigenschaften gelegt werden, deren ein Mädchen, oder eigentlich jeder
Mensch, vor allen andern in jeder Lebensstellung bedarf. Es muß das Ge¬
müt gepflegt, der Verstand geschärft und strenge Pflichterfüllung zum obersten
Gesetz erhoben werdeu. Der Mangel an Ernst und Strenge zieht in den
Menschen den Dilettantismus groß, den künstlerischen nicht nur, sondern auch
den seelischen; sie üben ihre Tugenden wie ihre Talente nur dann aus, wenn sie
dazu aufgelegt sind. Bei Knaben sollte mehr, als es meist geschieht, der Sinn
für Schönheit und Wichtigkeit des Familienlebens geweckt werden; ihr Anteil
nu den Genüssen, die es bietet, müßte zu ihren Leistungen an Gefälligkeiten,
kleinen Ritterdiensten und dergleichen in einem bestimmten Verhältnis stehn.
Neben der früh bei ihnen erwachenden Erkenntnis, daß das weibliche Geschlecht
nur zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf der Welt ist, müßte die zweite
gepflegt werden, daß sie nicht nur dem Mädchen, in das sie gerade verliebt
siud, sondern daß auch sie jedem Wesen, von dem sie etwas annehmen, das
ihnen etwas leistet, zu Gegendiensten, freilich sehr verschiedner Natur, ver¬
pflichtet sind. Ferner müßte jeden, Kinde mit der Zeit klar werden, daß man
nicht bloß lernt, weil die andern auch lernen, oder um später erwerbe» zu
können, oder um sich nicht infolge von Unkenntnis Blößen zu geben, sondern
auch, weil durch lebendiges Lernen der Mensch besser wird und seine Mit¬
menschen fördert. Wer von dieser Auffassung durchdrungen ist, macht gewiß
von diesem Standpunkt ans keinen Unterschied zwischen Mann und Frau.
Bei beiden muß zunächst der Grund zur harmonischen Ausbildung des
Menschen als solchen gelegt werden, sowohl weil sich die Neigung zu einer
besondern Ausbildung erst später zeigt, als auch weil ein schlecht oder nicht
erzogener Mensch immer weniger wert ist als andre, mag er noch so viel
gelernt haben. Die Ausbildung für den zukünftigen Beruf erscheint erst in
zweiter Linie wichtig. Nun ist zwar richtig, daß ein Mädchen, um in seinem
eigentlichen Beruf tüchtig zu sein, sich keine wissenschaftlichen Kenntnisse an¬
zueignen braucht, aber auch daß es diesen Beruf umso vollkommener erfüllen
wird, je wohlerzogener, gebildeter und unterrichteter es ist. Ein Blaustrumpf
ist ja uicht jede Frau, die viel gelernt hat, sondern nur eine, die mehr gelernt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/91>, abgerufen am 05.07.2024.