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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Doktrinarismus

die Menschen hindern, ihrem Zusammenleben die Formen zu geben, die sie
gerade wünschen? Und doch hat die Erfahrung gelehrt, daß auch hier die
Verwirklichung von Ideen um Bedingungen geknüpft ist, durch die sie in manchen
Fällen selbst unmöglich gemacht wird. Das einzige Beispiel der großen fran¬
zösischen Revolution genügt zur Widerlegung der Anschauung, von der ihre
Urheber geleitet wurden, daß ein Mehrheitsbeschluß genüge, um eine neue
Staatsverfassung ins Leben zu rufen; jenes große Experiment hat vielmehr
bewiesen, daß ein Eingriff in den Staatskörper vielfach unvorhergesehene Kräfte
in Thätigkeit setzt, die daS Ergebnis schließlich zu einem ganz andern machen,
als wie es beabsichtigt war. Die deutsche Einheitsbewegung der achtund-
vierziger Jahre scheiterte, weil, wie die Geschichte seitdem gezeigt,hat, bei der
damaligen Lage der Dinge ein 'nuiuittelbarer Übergang aus den bestehenden
Verhältnissen in die gewünschten neuen thatsächlich unmöglich war; es mußte
erst eine Reihe von Zwischenstufen durchlaufen werden, ehe das Ziel als das
Endergebnis der Reihe erreicht werden konnte. In unsrer Zeit besindet sich
der Sozialismus in einem ähnlichen Irrtume. Welchen Wert anch immer
seine Ideen an sich haben mögen, so ist doch das sozialistische Ideal so ver¬
schieden von dem thatsächlichen Zustande der Gesellschaft, daß eine unmittel¬
bare Verwirklichung undenkbar erscheint, weil sie eine Durchbrechung des all¬
gemeine" Gesetzes der Stetigkeit bedeuten würde.

Gewiß ist es eine beschränkte Ansicht und ein Zeichen von geringem ge¬
schichtlichen Verständnis, wenn oft behauptet wird, daß gewisse Verhältnisse
in alle Ewigkeit unverändert so fortbestehe" würden, niemals andre sein könnten,
als wie sie jetzt sind, und daß etwas in der Theorie zwar schön und gut sein
möge, aber praktisch unmöglich sei. Eine richtige Theorie läßt sich immer
auch in die Praxis übertrage", und so wie die menschliche Natur selbst ent¬
wicklungsfähig ist, so sind es ohne Zweifel auch alle menschlichen Verhältnisse.
Aber jede Entwicklung setzt einen Ausgangspunkt voraus, und aus einem ge¬
gebenen Zustande der Dinge heraus wird immer nur ein der Richtung und
Größe nach bestimmter Fortschritt möglich sein, und es dürfte kaum jemals
gelingen, durch eine einzige Handlung und gewissermaßen mit einem Feder¬
striche den Dingen ein neues Gesicht zu geben. Aber diese Erwägungen recht¬
fertigen nicht das unthätige Haften am Gegebenen; Zustände, die wir vielleicht
zur Zeit nicht ändern können, für unabänderlich zu erklären, ist eine schlechte
Entschuldigung der Trägheit. Der praktische Staatsmann hat sich allerdings
meist mit den Mitteln zu beschäftigen, durch die die nächstliegenden Zwecke
der Gesellschaft und des Staates erfüllt werden können, und die Klugheit, die
zu ihrer Auffindung gehört, ist unbedingt sehr schätzenswert; aber das große
Ganze kaun doch anch die Geister nicht entbehren, deren Bemühungen vor¬
wiegend darauf gerichtet sind, die idealen Endzwecke alles menschlichen Zu¬
sammenlebens im allgemeinen Bewußtsein lebendig zu erhalten, ans die hin


Doktrinarismus

die Menschen hindern, ihrem Zusammenleben die Formen zu geben, die sie
gerade wünschen? Und doch hat die Erfahrung gelehrt, daß auch hier die
Verwirklichung von Ideen um Bedingungen geknüpft ist, durch die sie in manchen
Fällen selbst unmöglich gemacht wird. Das einzige Beispiel der großen fran¬
zösischen Revolution genügt zur Widerlegung der Anschauung, von der ihre
Urheber geleitet wurden, daß ein Mehrheitsbeschluß genüge, um eine neue
Staatsverfassung ins Leben zu rufen; jenes große Experiment hat vielmehr
bewiesen, daß ein Eingriff in den Staatskörper vielfach unvorhergesehene Kräfte
in Thätigkeit setzt, die daS Ergebnis schließlich zu einem ganz andern machen,
als wie es beabsichtigt war. Die deutsche Einheitsbewegung der achtund-
vierziger Jahre scheiterte, weil, wie die Geschichte seitdem gezeigt,hat, bei der
damaligen Lage der Dinge ein 'nuiuittelbarer Übergang aus den bestehenden
Verhältnissen in die gewünschten neuen thatsächlich unmöglich war; es mußte
erst eine Reihe von Zwischenstufen durchlaufen werden, ehe das Ziel als das
Endergebnis der Reihe erreicht werden konnte. In unsrer Zeit besindet sich
der Sozialismus in einem ähnlichen Irrtume. Welchen Wert anch immer
seine Ideen an sich haben mögen, so ist doch das sozialistische Ideal so ver¬
schieden von dem thatsächlichen Zustande der Gesellschaft, daß eine unmittel¬
bare Verwirklichung undenkbar erscheint, weil sie eine Durchbrechung des all¬
gemeine» Gesetzes der Stetigkeit bedeuten würde.

Gewiß ist es eine beschränkte Ansicht und ein Zeichen von geringem ge¬
schichtlichen Verständnis, wenn oft behauptet wird, daß gewisse Verhältnisse
in alle Ewigkeit unverändert so fortbestehe» würden, niemals andre sein könnten,
als wie sie jetzt sind, und daß etwas in der Theorie zwar schön und gut sein
möge, aber praktisch unmöglich sei. Eine richtige Theorie läßt sich immer
auch in die Praxis übertrage», und so wie die menschliche Natur selbst ent¬
wicklungsfähig ist, so sind es ohne Zweifel auch alle menschlichen Verhältnisse.
Aber jede Entwicklung setzt einen Ausgangspunkt voraus, und aus einem ge¬
gebenen Zustande der Dinge heraus wird immer nur ein der Richtung und
Größe nach bestimmter Fortschritt möglich sein, und es dürfte kaum jemals
gelingen, durch eine einzige Handlung und gewissermaßen mit einem Feder¬
striche den Dingen ein neues Gesicht zu geben. Aber diese Erwägungen recht¬
fertigen nicht das unthätige Haften am Gegebenen; Zustände, die wir vielleicht
zur Zeit nicht ändern können, für unabänderlich zu erklären, ist eine schlechte
Entschuldigung der Trägheit. Der praktische Staatsmann hat sich allerdings
meist mit den Mitteln zu beschäftigen, durch die die nächstliegenden Zwecke
der Gesellschaft und des Staates erfüllt werden können, und die Klugheit, die
zu ihrer Auffindung gehört, ist unbedingt sehr schätzenswert; aber das große
Ganze kaun doch anch die Geister nicht entbehren, deren Bemühungen vor¬
wiegend darauf gerichtet sind, die idealen Endzwecke alles menschlichen Zu¬
sammenlebens im allgemeinen Bewußtsein lebendig zu erhalten, ans die hin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/78>, abgerufen am 24.07.2024.