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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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keit gegenüber der religiösen Weltanschauung beklagenswert, weil sich in ihr
eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen die große Frage des Zweckes im Menschen¬
leben ausspricht, eine Zerstreutheit des Geistes bekundet, die über das un¬
mittelbare Bedürfnis des Augenblicks nicht hinausdenkt. Teilweise mag jene
Teilnahmlosigkeit auch darin begründet sein, daß man die überlieferten Lehren
von der Aufgabe des Meuschen nicht mehr befriedigend findet; dann müßte
aber wenigstens ein lebhaftes und allgemeines Bestreben zu bemerken sein,
etwas Besseres an deren Stelle zu setzen oder gesetzt zu sehen; statt dessen
werden aber nur zu oft die, die das Bedürfnis uach einer abgeschlossenen
^ebensauschauuug fühlen, als Idealisten und Phantasten verspottet, und wenn
sie auch uach einer solchen allgemeinen Anschauung zu handeln bemüht sind,
"is unpraktische Doktrinäre gebrandmarkt.

In der Politik hat man eine besondre Bezeichnung erfunden für Leute,
die ihr Verhalten durch die jeweilig an sie herantretenden äußern Umstände
bestimmen lassen, weil sie ein allgemeines und grundsätzliches Programm nicht
haben oder wenigstens nicht ernstlich an seine Durchführung denken: man
nennt sie Opportunisten; in einem allgemeinem Sinn ist unsre ganze Zeit
opportunistisch. In dem heftigen Kampfe entgegengesetzter grundsätzlicher An¬
schauungen scheint es vielen das Beste, grundsatzlos zu sein, andern fehlt der
^nie, im Sinn ihrer Überzeugungen kräftig in den Lauf der Dinge einzugreifen,
>n weiten Kreisen wird der Glaube an praktische Ideale, die über die Aufgabe
des Tages hinausreichen, und ihre Verfolgung als Doktrinarismus verspottet!
Zwar lassen sich der herrschende Indifferentismus und Opportunismus damit
^ut>chnldigen, daß wir in eiuer Übergnugszeit leben, wo neue Lebeusideale in
Bildung begriffen sind, aber man sollte sie nicht beschönigen. In der Geschichte
wird man sehen, daß alle machtvollen Persönlichkeiten, alle thatkräftigen und
>>n Aufschwung begriffenen Volker von einem tiefgehenden Bewußtsein ihrer
Aufgabe, einem Ideal erfüllt waren.

Bei alledem soll nicht verkannt werden, daß auch in dieser Richtung ein
Überschreiten der Grenzen, eine Einseitigkeit möglich ist. Die Dinge sind dem
Menschlichen Willen nicht unbedingt Unterthan; nur mit Beachtung ihrer eignen
'"nem Gesetzmäßigkeit vermögen wir sie deshalb unsern Absichten gemäß zu
gestalte,,. Will der Baumeister ein haltbares Gebäude errichten, so muß er
dein Gesetze der Schwere und der Festigkeit der Stoffe rechnen; will der
^efahrer das Polarmeer durchkreuzen, so muß er die günstige Jahreszeit ab¬
warten u. s. w. Und wenn sich auch das menschliche Kulturleben im Laufe
Zeit mehr und mehr von den Naturbedingungen unabhängig gemacht hat,
ist doch diese Unabhängigkeit keine unbedingte. Dies ist ja auch allgemein
""erkannt. Aber mau hat doch vielfach geglaubt, daß wenigstens die Be¬
bungen der Menschen zu einander in Staat und Gesellschaft sich zu jeder
<Me >n jeder beliebigen Weise müßten gestalten lassen, denn was sollte denn


keit gegenüber der religiösen Weltanschauung beklagenswert, weil sich in ihr
eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen die große Frage des Zweckes im Menschen¬
leben ausspricht, eine Zerstreutheit des Geistes bekundet, die über das un¬
mittelbare Bedürfnis des Augenblicks nicht hinausdenkt. Teilweise mag jene
Teilnahmlosigkeit auch darin begründet sein, daß man die überlieferten Lehren
von der Aufgabe des Meuschen nicht mehr befriedigend findet; dann müßte
aber wenigstens ein lebhaftes und allgemeines Bestreben zu bemerken sein,
etwas Besseres an deren Stelle zu setzen oder gesetzt zu sehen; statt dessen
werden aber nur zu oft die, die das Bedürfnis uach einer abgeschlossenen
^ebensauschauuug fühlen, als Idealisten und Phantasten verspottet, und wenn
sie auch uach einer solchen allgemeinen Anschauung zu handeln bemüht sind,
"is unpraktische Doktrinäre gebrandmarkt.

In der Politik hat man eine besondre Bezeichnung erfunden für Leute,
die ihr Verhalten durch die jeweilig an sie herantretenden äußern Umstände
bestimmen lassen, weil sie ein allgemeines und grundsätzliches Programm nicht
haben oder wenigstens nicht ernstlich an seine Durchführung denken: man
nennt sie Opportunisten; in einem allgemeinem Sinn ist unsre ganze Zeit
opportunistisch. In dem heftigen Kampfe entgegengesetzter grundsätzlicher An¬
schauungen scheint es vielen das Beste, grundsatzlos zu sein, andern fehlt der
^nie, im Sinn ihrer Überzeugungen kräftig in den Lauf der Dinge einzugreifen,
>n weiten Kreisen wird der Glaube an praktische Ideale, die über die Aufgabe
des Tages hinausreichen, und ihre Verfolgung als Doktrinarismus verspottet!
Zwar lassen sich der herrschende Indifferentismus und Opportunismus damit
^ut>chnldigen, daß wir in eiuer Übergnugszeit leben, wo neue Lebeusideale in
Bildung begriffen sind, aber man sollte sie nicht beschönigen. In der Geschichte
wird man sehen, daß alle machtvollen Persönlichkeiten, alle thatkräftigen und
>>n Aufschwung begriffenen Volker von einem tiefgehenden Bewußtsein ihrer
Aufgabe, einem Ideal erfüllt waren.

Bei alledem soll nicht verkannt werden, daß auch in dieser Richtung ein
Überschreiten der Grenzen, eine Einseitigkeit möglich ist. Die Dinge sind dem
Menschlichen Willen nicht unbedingt Unterthan; nur mit Beachtung ihrer eignen
'»nem Gesetzmäßigkeit vermögen wir sie deshalb unsern Absichten gemäß zu
gestalte,,. Will der Baumeister ein haltbares Gebäude errichten, so muß er
dein Gesetze der Schwere und der Festigkeit der Stoffe rechnen; will der
^efahrer das Polarmeer durchkreuzen, so muß er die günstige Jahreszeit ab¬
warten u. s. w. Und wenn sich auch das menschliche Kulturleben im Laufe
Zeit mehr und mehr von den Naturbedingungen unabhängig gemacht hat,
ist doch diese Unabhängigkeit keine unbedingte. Dies ist ja auch allgemein
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bungen der Menschen zu einander in Staat und Gesellschaft sich zu jeder
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[0077] keit gegenüber der religiösen Weltanschauung beklagenswert, weil sich in ihr eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen die große Frage des Zweckes im Menschen¬ leben ausspricht, eine Zerstreutheit des Geistes bekundet, die über das un¬ mittelbare Bedürfnis des Augenblicks nicht hinausdenkt. Teilweise mag jene Teilnahmlosigkeit auch darin begründet sein, daß man die überlieferten Lehren von der Aufgabe des Meuschen nicht mehr befriedigend findet; dann müßte aber wenigstens ein lebhaftes und allgemeines Bestreben zu bemerken sein, etwas Besseres an deren Stelle zu setzen oder gesetzt zu sehen; statt dessen werden aber nur zu oft die, die das Bedürfnis uach einer abgeschlossenen ^ebensauschauuug fühlen, als Idealisten und Phantasten verspottet, und wenn sie auch uach einer solchen allgemeinen Anschauung zu handeln bemüht sind, "is unpraktische Doktrinäre gebrandmarkt. In der Politik hat man eine besondre Bezeichnung erfunden für Leute, die ihr Verhalten durch die jeweilig an sie herantretenden äußern Umstände bestimmen lassen, weil sie ein allgemeines und grundsätzliches Programm nicht haben oder wenigstens nicht ernstlich an seine Durchführung denken: man nennt sie Opportunisten; in einem allgemeinem Sinn ist unsre ganze Zeit opportunistisch. In dem heftigen Kampfe entgegengesetzter grundsätzlicher An¬ schauungen scheint es vielen das Beste, grundsatzlos zu sein, andern fehlt der ^nie, im Sinn ihrer Überzeugungen kräftig in den Lauf der Dinge einzugreifen, >n weiten Kreisen wird der Glaube an praktische Ideale, die über die Aufgabe des Tages hinausreichen, und ihre Verfolgung als Doktrinarismus verspottet! Zwar lassen sich der herrschende Indifferentismus und Opportunismus damit ^ut>chnldigen, daß wir in eiuer Übergnugszeit leben, wo neue Lebeusideale in Bildung begriffen sind, aber man sollte sie nicht beschönigen. In der Geschichte wird man sehen, daß alle machtvollen Persönlichkeiten, alle thatkräftigen und >>n Aufschwung begriffenen Volker von einem tiefgehenden Bewußtsein ihrer Aufgabe, einem Ideal erfüllt waren. Bei alledem soll nicht verkannt werden, daß auch in dieser Richtung ein Überschreiten der Grenzen, eine Einseitigkeit möglich ist. Die Dinge sind dem Menschlichen Willen nicht unbedingt Unterthan; nur mit Beachtung ihrer eignen '»nem Gesetzmäßigkeit vermögen wir sie deshalb unsern Absichten gemäß zu gestalte,,. Will der Baumeister ein haltbares Gebäude errichten, so muß er dein Gesetze der Schwere und der Festigkeit der Stoffe rechnen; will der ^efahrer das Polarmeer durchkreuzen, so muß er die günstige Jahreszeit ab¬ warten u. s. w. Und wenn sich auch das menschliche Kulturleben im Laufe Zeit mehr und mehr von den Naturbedingungen unabhängig gemacht hat, ist doch diese Unabhängigkeit keine unbedingte. Dies ist ja auch allgemein "»erkannt. Aber mau hat doch vielfach geglaubt, daß wenigstens die Be¬ bungen der Menschen zu einander in Staat und Gesellschaft sich zu jeder <Me >n jeder beliebigen Weise müßten gestalten lassen, denn was sollte denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/77>, abgerufen am 24.07.2024.