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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Beispiel ihrer tierischen Ahnen und Verwandten befolge,? müßte? Sähen wir
auch in der ganzen Natur nichts als Thaten der Gemeinheit und des schranken¬
losen Eigennutzes, ja wäre die Einrichtung der Natur selbst so, daß alle unsre
Bemühungen, gewisse sittliche Ideale zu verwirklichen, zuletzt erfolglos bleiben
müßten, so wäre das zwar ein Grund zu einer pessimistischen Ansicht über
die Schöpfung, aber kein Grund, unsre Anschauungen über sittlichen Wert
und Unwert zu ändern oder ganz wegzuwerfen; wenigstens wir Menschen
könnten uns trotz alledem, soviel an uns liegt, bemühen, das Gute und Edle
in der Welt zur Darstellung zu bringen, ja wir müßten es sogar, um mit
uns selbst zufrieden sein zu können. Unsre Ideale stehen über den Thatsachen,
und wir sind in der Lage, wenn auch in noch so bescheidenem Umfange, die
Welt ihnen gemäß zu untern.

Mit Recht wird es als doktrinäre Anmaßung betrachtet, wenn jemand
den Anspruch erhebt, in irgend einem Begriffe, einer Hypothese, einer philo¬
sophischen Anschauung die gesamte Wirklichkeit im Denken zu umfassen; an
den handelnden Menschen ist umgekehrt die unerläßliche Forderung zu stellen,
bei allem seinem Thun ein umfassendes, die einzelnen Handlungen beherrschendes
Ideal vor Augen zu haben. Man verlangt wenigstens von einem Manne, daß
er wisse, was er will, ein Bild der Welt, wie sie sein sollte, vor Augen habe
und sich uicht durch die von außen kommenden Antriebe des Augenblicks leiten
lasse. Freilich findet sich nur bei wenigen Menschen der Grad von Selbst¬
besinnung vor, der den geschlossenen klaren Charakter, den praktischen Philo¬
sophen ausmacht; die Mehrzahl der Menschen weiß thatsächlich nicht, was sie
in letzter Linie will. Man frage jemanden nach dein Zweck einer seiner
Handlungen, weiter nach dem Zwecke dieses Zweckes n. s. w., und man wird
sehen, daß er in der Regel bald keine weitere Auskunft zu geben weiß, ein
Beweis, daß sein Handeln im letzten Grunde nnr instinktmäßig ist. Wie
vielen Millionen kommt nie ein andres Ziel menschlichen Thuns zum Bewußt¬
sein, als der Erwerb, und wenn sie noch einen Schritt weiter gehen, so bleiben
sie bei der Vorstellung des Genusses stehen, ohne jemals in Erwägung All
ziehen, ob das Genießen als ein auf die Dauer und in Wahrheit befriedigender
Endzweck von einem vernünftigen Wesen betrachtet werden könne! Andre be¬
ruhigen sich bei dem Gedanke", daß sie ihr Leben in dem hergebrachten Kreis¬
laufe zu vollenden und Kinder zu hinterlassen beabsichtigen, die dasselbe thun
werden; sie sehen keine andre Aufgabe vor sich, als das zu wiederholen, was
ihnen vorgemacht worden ist, ohne zu fragen, welcher Zweck denn nun dnrch
diese ewige Wiederholung desselben Schauspiels erfüllt werden soll.

Es ist die bedeutsamste Seite der Religionen, daß sie den Menschen ein
Lebensideal, eine bestimmte Anschauung über Ziel und Aufgabe des einzelnen
Menschenlebens und des menschlichen Daseins im ganzen mitteilen; und haupt¬
sächlich deshalb scheint uns die immer weiter um sich greifende Teilnahinlosig-


Beispiel ihrer tierischen Ahnen und Verwandten befolge,? müßte? Sähen wir
auch in der ganzen Natur nichts als Thaten der Gemeinheit und des schranken¬
losen Eigennutzes, ja wäre die Einrichtung der Natur selbst so, daß alle unsre
Bemühungen, gewisse sittliche Ideale zu verwirklichen, zuletzt erfolglos bleiben
müßten, so wäre das zwar ein Grund zu einer pessimistischen Ansicht über
die Schöpfung, aber kein Grund, unsre Anschauungen über sittlichen Wert
und Unwert zu ändern oder ganz wegzuwerfen; wenigstens wir Menschen
könnten uns trotz alledem, soviel an uns liegt, bemühen, das Gute und Edle
in der Welt zur Darstellung zu bringen, ja wir müßten es sogar, um mit
uns selbst zufrieden sein zu können. Unsre Ideale stehen über den Thatsachen,
und wir sind in der Lage, wenn auch in noch so bescheidenem Umfange, die
Welt ihnen gemäß zu untern.

Mit Recht wird es als doktrinäre Anmaßung betrachtet, wenn jemand
den Anspruch erhebt, in irgend einem Begriffe, einer Hypothese, einer philo¬
sophischen Anschauung die gesamte Wirklichkeit im Denken zu umfassen; an
den handelnden Menschen ist umgekehrt die unerläßliche Forderung zu stellen,
bei allem seinem Thun ein umfassendes, die einzelnen Handlungen beherrschendes
Ideal vor Augen zu haben. Man verlangt wenigstens von einem Manne, daß
er wisse, was er will, ein Bild der Welt, wie sie sein sollte, vor Augen habe
und sich uicht durch die von außen kommenden Antriebe des Augenblicks leiten
lasse. Freilich findet sich nur bei wenigen Menschen der Grad von Selbst¬
besinnung vor, der den geschlossenen klaren Charakter, den praktischen Philo¬
sophen ausmacht; die Mehrzahl der Menschen weiß thatsächlich nicht, was sie
in letzter Linie will. Man frage jemanden nach dein Zweck einer seiner
Handlungen, weiter nach dem Zwecke dieses Zweckes n. s. w., und man wird
sehen, daß er in der Regel bald keine weitere Auskunft zu geben weiß, ein
Beweis, daß sein Handeln im letzten Grunde nnr instinktmäßig ist. Wie
vielen Millionen kommt nie ein andres Ziel menschlichen Thuns zum Bewußt¬
sein, als der Erwerb, und wenn sie noch einen Schritt weiter gehen, so bleiben
sie bei der Vorstellung des Genusses stehen, ohne jemals in Erwägung All
ziehen, ob das Genießen als ein auf die Dauer und in Wahrheit befriedigender
Endzweck von einem vernünftigen Wesen betrachtet werden könne! Andre be¬
ruhigen sich bei dem Gedanke», daß sie ihr Leben in dem hergebrachten Kreis¬
laufe zu vollenden und Kinder zu hinterlassen beabsichtigen, die dasselbe thun
werden; sie sehen keine andre Aufgabe vor sich, als das zu wiederholen, was
ihnen vorgemacht worden ist, ohne zu fragen, welcher Zweck denn nun dnrch
diese ewige Wiederholung desselben Schauspiels erfüllt werden soll.

Es ist die bedeutsamste Seite der Religionen, daß sie den Menschen ein
Lebensideal, eine bestimmte Anschauung über Ziel und Aufgabe des einzelnen
Menschenlebens und des menschlichen Daseins im ganzen mitteilen; und haupt¬
sächlich deshalb scheint uns die immer weiter um sich greifende Teilnahinlosig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/76>, abgerufen am 24.07.2024.