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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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sucht mit Hilfe derselben neue Besonderheiten festzustellen. Auf induktiven
Wege gewann die Chemie die Begriffe ihrer Elemente, in deduktiver Weise
erklärt sie mit Zugrundelegung dieser Begriffe die einzelnen Vorgänge der
Veränderung; durch Induktion aus gewissen Thatsachen des Wirtschaftslebens
gewannen die Nationalökonomen der ältern Schule ihre obersten Begriffe und
Voraussetzungen, aus denen dann deduktiv die Einzelheiten der wirtschaftlichen
Vorgänge erklärt werden sollten. Überall gilt es als die letzte Aufgabe der
wissenschaftlichen Forschung, allgemeinste Begriffe und Gesetze (Prinzipien,
Axiome) festzustellen, denen sich alle Einzelheiten des betreffenden Gebietes
deduktiv unterordnen lassen; die unübersehbare Mannichfaltigkeit der That¬
sachen soll durch wenige Begriffe beherrscht werden.

Es giebt jedoch triftige Gründe für die Annahme, daß eine solche Be¬
herrschung ein Ideal sei, dem sich die Wissenschaft zwar nähern, das sie aber
nie erreichen kann. Es ist kaum zu erwarten, daß Begriffen, die doch immer
mir aus eiuer beschränkten Zahl von Thatsachen gewonnen sind, deren Eigen¬
tümlichkeiten sie ausdrücken, sich alle Thatsachen unterordnen lassen. Ein
vorsichtiger Forscher wird deshalb die Voraussetzungen, mit denen die Wissen¬
schaft seiner Zeit an die Thatsachen herantritt, niemals als endgiltig fest¬
stehend ansehen, sondern immer darauf vorbereitet sein, die Begriffe den An¬
forderungen der Thatsachen entsprechend zu berichtigen; der Begriff gilt ihm
immer nur als Hilfsmittel, dessen man sich bedient, um es nötigenfalls mit
einem bessern zu vertauschen. Häufig genug wird jedoch dieser Erwägung
nicht Rechnung getragen; man bleibt bei den einmal angenommenen Schema-
tisirnngen stehen und preßt die Thatsachen gewaltsam in das Fachwerk seiner
Begriffe hinein oder übersieht die, die nicht hineinpassen wollen; dann verfällt
man einem einseitigen und deshalb fehlerhaften Doktrinarismus.

Die Gedankengebäude der spekulativen Philosophen sind meist mit diesem
Fehler behaftet; von Parmenides, der die Wirklichkeit der Sinnenwelt leugnete,
weil sie seinem Begriffe des Seins nicht entsprach, bis zu Hegel und Herbart
sind alle MetaPhysiker als Doktrinäre zu bezeichnen. Erst in der neuesten
Zeit hat in der Philosophie die entgegengesetzte Richtung, die wir als Posi-
tivismus bezeichnen können, mehr Anerkennung ihres Rechts gefunden. Dok¬
trinär war die Naturlehre des Aristoteles, ja seine Begriffe waren meist nicht
einmal unmittelbar aus den Thatsachen der äußern Natur, souderu aus der
Metaphysik abgeleitet, und es war das Genie eines Galilei nötig, um dem
lediglich in Begriffen sich bewegenden Denken seiner gelehrten Zeitgenossen
gegenüber das Recht der Thatsachen geltend zu machen. Dabei geschah es
bekanntlich -- ein Beweis, welche Macht einmal angenommene Begriffe über
den Menschengeist ausüben -- daß die Professoren von Florenz die ihnen im
Fernrohr gezeigten Monde des Jupiter für subjektive Täuschungen erklärten!
Aber auch die neuere Geschichte der Wissenschaft bietet derartige Beispiele


sucht mit Hilfe derselben neue Besonderheiten festzustellen. Auf induktiven
Wege gewann die Chemie die Begriffe ihrer Elemente, in deduktiver Weise
erklärt sie mit Zugrundelegung dieser Begriffe die einzelnen Vorgänge der
Veränderung; durch Induktion aus gewissen Thatsachen des Wirtschaftslebens
gewannen die Nationalökonomen der ältern Schule ihre obersten Begriffe und
Voraussetzungen, aus denen dann deduktiv die Einzelheiten der wirtschaftlichen
Vorgänge erklärt werden sollten. Überall gilt es als die letzte Aufgabe der
wissenschaftlichen Forschung, allgemeinste Begriffe und Gesetze (Prinzipien,
Axiome) festzustellen, denen sich alle Einzelheiten des betreffenden Gebietes
deduktiv unterordnen lassen; die unübersehbare Mannichfaltigkeit der That¬
sachen soll durch wenige Begriffe beherrscht werden.

Es giebt jedoch triftige Gründe für die Annahme, daß eine solche Be¬
herrschung ein Ideal sei, dem sich die Wissenschaft zwar nähern, das sie aber
nie erreichen kann. Es ist kaum zu erwarten, daß Begriffen, die doch immer
mir aus eiuer beschränkten Zahl von Thatsachen gewonnen sind, deren Eigen¬
tümlichkeiten sie ausdrücken, sich alle Thatsachen unterordnen lassen. Ein
vorsichtiger Forscher wird deshalb die Voraussetzungen, mit denen die Wissen¬
schaft seiner Zeit an die Thatsachen herantritt, niemals als endgiltig fest¬
stehend ansehen, sondern immer darauf vorbereitet sein, die Begriffe den An¬
forderungen der Thatsachen entsprechend zu berichtigen; der Begriff gilt ihm
immer nur als Hilfsmittel, dessen man sich bedient, um es nötigenfalls mit
einem bessern zu vertauschen. Häufig genug wird jedoch dieser Erwägung
nicht Rechnung getragen; man bleibt bei den einmal angenommenen Schema-
tisirnngen stehen und preßt die Thatsachen gewaltsam in das Fachwerk seiner
Begriffe hinein oder übersieht die, die nicht hineinpassen wollen; dann verfällt
man einem einseitigen und deshalb fehlerhaften Doktrinarismus.

Die Gedankengebäude der spekulativen Philosophen sind meist mit diesem
Fehler behaftet; von Parmenides, der die Wirklichkeit der Sinnenwelt leugnete,
weil sie seinem Begriffe des Seins nicht entsprach, bis zu Hegel und Herbart
sind alle MetaPhysiker als Doktrinäre zu bezeichnen. Erst in der neuesten
Zeit hat in der Philosophie die entgegengesetzte Richtung, die wir als Posi-
tivismus bezeichnen können, mehr Anerkennung ihres Rechts gefunden. Dok¬
trinär war die Naturlehre des Aristoteles, ja seine Begriffe waren meist nicht
einmal unmittelbar aus den Thatsachen der äußern Natur, souderu aus der
Metaphysik abgeleitet, und es war das Genie eines Galilei nötig, um dem
lediglich in Begriffen sich bewegenden Denken seiner gelehrten Zeitgenossen
gegenüber das Recht der Thatsachen geltend zu machen. Dabei geschah es
bekanntlich — ein Beweis, welche Macht einmal angenommene Begriffe über
den Menschengeist ausüben — daß die Professoren von Florenz die ihnen im
Fernrohr gezeigten Monde des Jupiter für subjektive Täuschungen erklärten!
Aber auch die neuere Geschichte der Wissenschaft bietet derartige Beispiele


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/74>, abgerufen am 04.07.2024.