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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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ZINN diinkeln Kapitel der Kulturgeschichte

Prostitution. Unsre Kultur segelt mit dieser alles ansteckenden und vergiftenden
Leiche im Schiffsraum; und daß sie diese gefährliche Begleiterin nicht über Bord
werfen kann oder es wenigstens nicht zu können glaubt, das gerade beweist
den unnatürlichen und ungesunden Zustand unsrer Kulturverhältnisse. Die
Prostitution ist nicht abzuschaffen, sagen die einen, denn sie ist der Schutz der
christlichen Tugend; ohne sie würde die von Versuchungen verschonte Reinheit
unzähliger Familien befleckt werden, sie ist ein Sicherheitsventil unsrer Gesell¬
schaft, das wir unmöglich beseitigen können. Gut, sagen die andern, wir
wollen die Prostitution zum Verbrechen stempeln; dann aber ist unbedingt
erforderlich, vorher dnrch Gesetz unzweideutig zu erklären, daß jeder Geschlechts¬
verkehr anßer dem ehelichen ebenfalls ein strafwürdiges Verbrechen sei.
Gegen die erstere Ansicht wendet sich Ribbing mit aller Entschiedenheit.
Die Prostitution sei durchaus keine Schutzwaud für das Heiligtum der Ehe,
denn sie schaffe uns Männer, deren sittliche Reinheit befleckt, deren Gesund¬
heit untergraben, deren Gemüt verroht, deren Treue unzuverlässig, deren
eheliches Liebesfeuer jeder jugendlichen Frische beraubt sei. Daher die instinktive
Furcht unsrer ehrbaren, unverdorbenen Frauen vor der Prostitution; denn
von hier aus dringt das Gift in die Familien, das ihre Kinder schon von
Geburt an mit Krankheiten belastet; von hier aus ahnen sie die schlimmstem
Gefahren für ihre aufwachsenden Söhne und die bittersten Enttäuschungen und
Leiden für ihre Töchter. Was uns gegen diese Untergrabung unsers Familien¬
lebens not thut, sagt Ribbing, das sind Reformen, und zwar Reformen, die
nicht aus irgend einer Ethik, sondern aus der Naturlehre der Monogamie
entnommen werden müssen. Unsre Erziehung muß schon darauf zugeschnitten
werden, den Körper gesünder zu macheu; wir müssen uns der Kultur anpassen;
wir müssen uns mehr Nerv und weniger Nerven anschaffen, müssen uns be¬
fleißigen, das kommende Geschlecht in reiner geistiger Atmosphäre aufzuziehen.
Wir müssen die Verheerungen des Alkohols verabscheuen lernen. Ich kann
zwar nicht verlangen, sagt er, daß sich jeder einer absolut enthaltsamen Gesell¬
schaft anschließe, ich kann aber verlangen, daß jeder nüchtern sei und bleibe;
das bedeutet in meinem Sinne, daß er niemals so viel Alkohol verzehre, daß
er seelische und körperliche Veränderungen davon erführe. Wir müssen psychi¬
schen Reizmitteln aus dem Wege gehen und alles meiden, wodurch die Sinnlich¬
keit aufgestachelt wird. Wir müssen auf größere Natürlichkeit der allgemeinen
Umgangsweise hinwirken, müssen Mann und Weib Gelegenheit bieten, sich
öfter und unter einfacheren Alltagsverhültnisseu zu begegnen, als es heutzutage
der Fall ist, wo man die jungen Leute nur zu Vergnügungen und Bällen
zusammenführt, bei denen allzu viele Schranken, sogar die einer anständigen
Tracht, zwischen ihnen niedergerissen werden. Ribbing verlangt von der Schule,
daß sie an den wichtigen Fragen des Geschlechtslebens nicht mit falscher
Prüderie vorbeigehe, denn alles darauf bezügliche Wissen stifte mehr Nutzen,


ZINN diinkeln Kapitel der Kulturgeschichte

Prostitution. Unsre Kultur segelt mit dieser alles ansteckenden und vergiftenden
Leiche im Schiffsraum; und daß sie diese gefährliche Begleiterin nicht über Bord
werfen kann oder es wenigstens nicht zu können glaubt, das gerade beweist
den unnatürlichen und ungesunden Zustand unsrer Kulturverhältnisse. Die
Prostitution ist nicht abzuschaffen, sagen die einen, denn sie ist der Schutz der
christlichen Tugend; ohne sie würde die von Versuchungen verschonte Reinheit
unzähliger Familien befleckt werden, sie ist ein Sicherheitsventil unsrer Gesell¬
schaft, das wir unmöglich beseitigen können. Gut, sagen die andern, wir
wollen die Prostitution zum Verbrechen stempeln; dann aber ist unbedingt
erforderlich, vorher dnrch Gesetz unzweideutig zu erklären, daß jeder Geschlechts¬
verkehr anßer dem ehelichen ebenfalls ein strafwürdiges Verbrechen sei.
Gegen die erstere Ansicht wendet sich Ribbing mit aller Entschiedenheit.
Die Prostitution sei durchaus keine Schutzwaud für das Heiligtum der Ehe,
denn sie schaffe uns Männer, deren sittliche Reinheit befleckt, deren Gesund¬
heit untergraben, deren Gemüt verroht, deren Treue unzuverlässig, deren
eheliches Liebesfeuer jeder jugendlichen Frische beraubt sei. Daher die instinktive
Furcht unsrer ehrbaren, unverdorbenen Frauen vor der Prostitution; denn
von hier aus dringt das Gift in die Familien, das ihre Kinder schon von
Geburt an mit Krankheiten belastet; von hier aus ahnen sie die schlimmstem
Gefahren für ihre aufwachsenden Söhne und die bittersten Enttäuschungen und
Leiden für ihre Töchter. Was uns gegen diese Untergrabung unsers Familien¬
lebens not thut, sagt Ribbing, das sind Reformen, und zwar Reformen, die
nicht aus irgend einer Ethik, sondern aus der Naturlehre der Monogamie
entnommen werden müssen. Unsre Erziehung muß schon darauf zugeschnitten
werden, den Körper gesünder zu macheu; wir müssen uns der Kultur anpassen;
wir müssen uns mehr Nerv und weniger Nerven anschaffen, müssen uns be¬
fleißigen, das kommende Geschlecht in reiner geistiger Atmosphäre aufzuziehen.
Wir müssen die Verheerungen des Alkohols verabscheuen lernen. Ich kann
zwar nicht verlangen, sagt er, daß sich jeder einer absolut enthaltsamen Gesell¬
schaft anschließe, ich kann aber verlangen, daß jeder nüchtern sei und bleibe;
das bedeutet in meinem Sinne, daß er niemals so viel Alkohol verzehre, daß
er seelische und körperliche Veränderungen davon erführe. Wir müssen psychi¬
schen Reizmitteln aus dem Wege gehen und alles meiden, wodurch die Sinnlich¬
keit aufgestachelt wird. Wir müssen auf größere Natürlichkeit der allgemeinen
Umgangsweise hinwirken, müssen Mann und Weib Gelegenheit bieten, sich
öfter und unter einfacheren Alltagsverhültnisseu zu begegnen, als es heutzutage
der Fall ist, wo man die jungen Leute nur zu Vergnügungen und Bällen
zusammenführt, bei denen allzu viele Schranken, sogar die einer anständigen
Tracht, zwischen ihnen niedergerissen werden. Ribbing verlangt von der Schule,
daß sie an den wichtigen Fragen des Geschlechtslebens nicht mit falscher
Prüderie vorbeigehe, denn alles darauf bezügliche Wissen stifte mehr Nutzen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/620>, abgerufen am 04.07.2024.