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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zum dunkel" Ucipitel der Attltulgcschichre

ändert und z. V. in Deutschland gegenwärtig auf 1000 Männer 1037 Frauen
kommen, das ist nicht die Folge natürlicher Vorgänge, sondern lediglich das
Ergebnis einer Reihe von Zuständen, die aus unsrer ungesunden Kultur und
aus den aufreibenden Lebensbedingungen der Männer hervorgehen. Die Natur
strebt im Gegenteil immer und überall dahin, das Gleichgewicht der Ge¬
schlechter zu erhalten, und wo sich in einem Lande ein merklicher Überschuß
des einen Geschlechtes zeigt, da sucht sie sogleich in einem andern einen Aus¬
gleich herzustellen. So ist z. B. in den Vereinigten Staaten das Verhältnis
zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung wie 1000 zu 978; es ist also
völliger Unsinn, von einer dnrch die Natur gewollten polygamischen Lebens¬
führung des Mannes zu reden. Wo Völker trotzdem die Vielweiberei ein¬
geführt haben, da hat das vorhandne Frauenmaterial niemals ausgereicht;
eine so künstliche oder richtiger widernatürliche Einrichtung ist immer nur
durch gewaltthätige Mittel möglich gewesen, durch Raub fremder Weiber,
dnrch Kauf von Sklavinnen, durch zahlreiche Kastrirungen überzähliger Knaben
und Männer.

Es zeigt sich auch in dieser Frage wieder, welch einen Rattenkönig von
Widersprüchen die Schopenhancrsche Lehre enthält. Während der Philosoph
auf der einen Seite das polygamische Geschlechtsleben des Mannes als ein
Gebot der Natur hinstellt und aus dem Naturrecht durchaus leine Verbind¬
lichkeiten abzuleiten vermag, daß der Mann monogamisch bleiben müsse, be¬
hauptet er wieder an einer andern Stelle: jede Geschlcchtsbefriedigung ohne
Übernahme der Verbindlichkeit, für Weib und Kind zu sorgen, ist unrecht, d. h.
Bejahung des eignen Willens vermittels Verneinung des fremden, im weib¬
lichen Individuum erscheinenden. Aus dieser Verbindlichkeit geht notwendig
die des Weibes hervor, dem Manne Treue zu bewahren, sowie wiederum aus
ihrer Verbindlichkeit zur Treue die seinige hervorgeht, ihr tren zu sein. Es ist
geradezu verblüffend, wie Schopenhauer, nachdem er zuerst die Vielweiberei,
d. h. also nach den heutigen Verhältnissen nichts andres als die Prostitution,
verteidigt hat, dann als das einzig richtige die Monogamie empfiehlt, mit
seinem System schließlich auf die rücksichtslose Verwerfung jeder Befriedigung
des Geschlechtstriebes hinauskommt. Der Wille stellt sich nach seiner Ansicht
nicht bloß als Trieb zur Selbsterhaltung dar, wodurch das Leben verhältnis¬
mäßig leicht und heiter ausfallen würde, er will das Leben schlechthin und
auf alle Zeit und äußert sich daher auch noch als Geschlechtstrieb, der es
auf eine endlose Reihe von Geschlechtern abgesehen hat. Dieser Trieb, sagt er.
hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld auf, die ein bloßes individuelles
Dasein begleiten würden, indem er in das Bewußtsein Unrnhe und Melan¬
cholie, in den Lebenslauf Unfälle, Sorge und Not bringt. Jede Befriedigung
dieses Triebes ist weiter nichts als die kräftigste Bejahung des Willens zum
Leben; diese Bejahung ist aber vom ethischen Standpunkt aus völlig zu ver-


Zum dunkel» Ucipitel der Attltulgcschichre

ändert und z. V. in Deutschland gegenwärtig auf 1000 Männer 1037 Frauen
kommen, das ist nicht die Folge natürlicher Vorgänge, sondern lediglich das
Ergebnis einer Reihe von Zuständen, die aus unsrer ungesunden Kultur und
aus den aufreibenden Lebensbedingungen der Männer hervorgehen. Die Natur
strebt im Gegenteil immer und überall dahin, das Gleichgewicht der Ge¬
schlechter zu erhalten, und wo sich in einem Lande ein merklicher Überschuß
des einen Geschlechtes zeigt, da sucht sie sogleich in einem andern einen Aus¬
gleich herzustellen. So ist z. B. in den Vereinigten Staaten das Verhältnis
zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung wie 1000 zu 978; es ist also
völliger Unsinn, von einer dnrch die Natur gewollten polygamischen Lebens¬
führung des Mannes zu reden. Wo Völker trotzdem die Vielweiberei ein¬
geführt haben, da hat das vorhandne Frauenmaterial niemals ausgereicht;
eine so künstliche oder richtiger widernatürliche Einrichtung ist immer nur
durch gewaltthätige Mittel möglich gewesen, durch Raub fremder Weiber,
dnrch Kauf von Sklavinnen, durch zahlreiche Kastrirungen überzähliger Knaben
und Männer.

Es zeigt sich auch in dieser Frage wieder, welch einen Rattenkönig von
Widersprüchen die Schopenhancrsche Lehre enthält. Während der Philosoph
auf der einen Seite das polygamische Geschlechtsleben des Mannes als ein
Gebot der Natur hinstellt und aus dem Naturrecht durchaus leine Verbind¬
lichkeiten abzuleiten vermag, daß der Mann monogamisch bleiben müsse, be¬
hauptet er wieder an einer andern Stelle: jede Geschlcchtsbefriedigung ohne
Übernahme der Verbindlichkeit, für Weib und Kind zu sorgen, ist unrecht, d. h.
Bejahung des eignen Willens vermittels Verneinung des fremden, im weib¬
lichen Individuum erscheinenden. Aus dieser Verbindlichkeit geht notwendig
die des Weibes hervor, dem Manne Treue zu bewahren, sowie wiederum aus
ihrer Verbindlichkeit zur Treue die seinige hervorgeht, ihr tren zu sein. Es ist
geradezu verblüffend, wie Schopenhauer, nachdem er zuerst die Vielweiberei,
d. h. also nach den heutigen Verhältnissen nichts andres als die Prostitution,
verteidigt hat, dann als das einzig richtige die Monogamie empfiehlt, mit
seinem System schließlich auf die rücksichtslose Verwerfung jeder Befriedigung
des Geschlechtstriebes hinauskommt. Der Wille stellt sich nach seiner Ansicht
nicht bloß als Trieb zur Selbsterhaltung dar, wodurch das Leben verhältnis¬
mäßig leicht und heiter ausfallen würde, er will das Leben schlechthin und
auf alle Zeit und äußert sich daher auch noch als Geschlechtstrieb, der es
auf eine endlose Reihe von Geschlechtern abgesehen hat. Dieser Trieb, sagt er.
hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld auf, die ein bloßes individuelles
Dasein begleiten würden, indem er in das Bewußtsein Unrnhe und Melan¬
cholie, in den Lebenslauf Unfälle, Sorge und Not bringt. Jede Befriedigung
dieses Triebes ist weiter nichts als die kräftigste Bejahung des Willens zum
Leben; diese Bejahung ist aber vom ethischen Standpunkt aus völlig zu ver-


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[0617] Zum dunkel» Ucipitel der Attltulgcschichre ändert und z. V. in Deutschland gegenwärtig auf 1000 Männer 1037 Frauen kommen, das ist nicht die Folge natürlicher Vorgänge, sondern lediglich das Ergebnis einer Reihe von Zuständen, die aus unsrer ungesunden Kultur und aus den aufreibenden Lebensbedingungen der Männer hervorgehen. Die Natur strebt im Gegenteil immer und überall dahin, das Gleichgewicht der Ge¬ schlechter zu erhalten, und wo sich in einem Lande ein merklicher Überschuß des einen Geschlechtes zeigt, da sucht sie sogleich in einem andern einen Aus¬ gleich herzustellen. So ist z. B. in den Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung wie 1000 zu 978; es ist also völliger Unsinn, von einer dnrch die Natur gewollten polygamischen Lebens¬ führung des Mannes zu reden. Wo Völker trotzdem die Vielweiberei ein¬ geführt haben, da hat das vorhandne Frauenmaterial niemals ausgereicht; eine so künstliche oder richtiger widernatürliche Einrichtung ist immer nur durch gewaltthätige Mittel möglich gewesen, durch Raub fremder Weiber, dnrch Kauf von Sklavinnen, durch zahlreiche Kastrirungen überzähliger Knaben und Männer. Es zeigt sich auch in dieser Frage wieder, welch einen Rattenkönig von Widersprüchen die Schopenhancrsche Lehre enthält. Während der Philosoph auf der einen Seite das polygamische Geschlechtsleben des Mannes als ein Gebot der Natur hinstellt und aus dem Naturrecht durchaus leine Verbind¬ lichkeiten abzuleiten vermag, daß der Mann monogamisch bleiben müsse, be¬ hauptet er wieder an einer andern Stelle: jede Geschlcchtsbefriedigung ohne Übernahme der Verbindlichkeit, für Weib und Kind zu sorgen, ist unrecht, d. h. Bejahung des eignen Willens vermittels Verneinung des fremden, im weib¬ lichen Individuum erscheinenden. Aus dieser Verbindlichkeit geht notwendig die des Weibes hervor, dem Manne Treue zu bewahren, sowie wiederum aus ihrer Verbindlichkeit zur Treue die seinige hervorgeht, ihr tren zu sein. Es ist geradezu verblüffend, wie Schopenhauer, nachdem er zuerst die Vielweiberei, d. h. also nach den heutigen Verhältnissen nichts andres als die Prostitution, verteidigt hat, dann als das einzig richtige die Monogamie empfiehlt, mit seinem System schließlich auf die rücksichtslose Verwerfung jeder Befriedigung des Geschlechtstriebes hinauskommt. Der Wille stellt sich nach seiner Ansicht nicht bloß als Trieb zur Selbsterhaltung dar, wodurch das Leben verhältnis¬ mäßig leicht und heiter ausfallen würde, er will das Leben schlechthin und auf alle Zeit und äußert sich daher auch noch als Geschlechtstrieb, der es auf eine endlose Reihe von Geschlechtern abgesehen hat. Dieser Trieb, sagt er. hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld auf, die ein bloßes individuelles Dasein begleiten würden, indem er in das Bewußtsein Unrnhe und Melan¬ cholie, in den Lebenslauf Unfälle, Sorge und Not bringt. Jede Befriedigung dieses Triebes ist weiter nichts als die kräftigste Bejahung des Willens zum Leben; diese Bejahung ist aber vom ethischen Standpunkt aus völlig zu ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/617>, abgerufen am 04.07.2024.