Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Z""> dunkeln Rapüel der Kulturgeschichte den, die Keuschheit nicht einen Pfifferling wert seien. "Wißt ihr," sagt ein Diese Worte könnte ebenso gut einer vom jüngsten Deutschland geschrieben Die unerhörte Sophistik und Oberflächlichkeit in diesen Worten leuchtet Z""> dunkeln Rapüel der Kulturgeschichte den, die Keuschheit nicht einen Pfifferling wert seien. „Wißt ihr," sagt ein Diese Worte könnte ebenso gut einer vom jüngsten Deutschland geschrieben Die unerhörte Sophistik und Oberflächlichkeit in diesen Worten leuchtet <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0616" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210483"/> <fw type="header" place="top"> Z""> dunkeln Rapüel der Kulturgeschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1722" prev="#ID_1721"> den, die Keuschheit nicht einen Pfifferling wert seien. „Wißt ihr," sagt ein<lb/> vielgelesener nordischer Schriftsteller, „daß ein Murr, der sein Leben der Er¬<lb/> füllung der steten Enthaltsamkeit widmet, kaum Zeit und Möglichkeit findet,<lb/> etwas andres zu thun; seine Kraft wird durch diese ungeheure Selbstkastriruug<lb/> aufgebraucht, und seine besten Jahre verrinnen in einem peinlichen Kampfe, dessen<lb/> lähmende, um nicht zu sagen zerstörende Einwirkung auf alle Seelenthätigkeiten<lb/> nur der ahnen kaun, der ihn selbst in gewissem Maß an sich erfahren hat."</p><lb/> <p xml:id="ID_1723"> Diese Worte könnte ebenso gut einer vom jüngsten Deutschland geschrieben<lb/> haben, denu sie alle sind der Meinung, daß die verfluchte Keuschheit der<lb/> Schleier sei, der uns die Wahrheit verhülle, und der jedem Menschen zur<lb/> Erlangung echter Glückseligkeit so bald wie möglich heruntergerissen werden<lb/> müsse. Der Verfasser der „Konventionellen Lügen" erklärt sogar jeden Maun<lb/> für einen Lügner, der behaupte, bis zur Ehe rein geblieben zu sein, denn der<lb/> Manu sei kein monogamisches Tier, sondern polygamisch veranlagt. Diese<lb/> thörichte Anschauung von der „polygamischen Tendenz" des Mannes, die<lb/> selbstverständlich von allen Lüstlingen und charakterlosen Schwachköpfen als<lb/> eine willkommne Rechtfertigung für ihre Ausschweifungen benutzt wird, ist<lb/> eine von den gefährlichsten Schopeuhauerscheu Irrlehren, die in unsre schön¬<lb/> geistige Litteratur eingedrungen find. Sie hat schon manches ruhige Gemüt<lb/> in Verwirrung gesetzt und wird noch verderblicher unter unsrer Jugend wirken,<lb/> seitdem die Werke dieses Philosophen zu einem Spottpreis über alle Länder<lb/> hin verschleudert werden. Ans dem Nnturrecht, sagt Schopenhauer, läßt sich<lb/> die Monogamie nicht ableiten; aus dem Naturrecht folgt bloß die Verbindlich¬<lb/> keit des Mannes, nur ein Weib zu haben, so lange dieses imstande ist, seinen<lb/> Trieb zu befriedigen und selbst einen gleichen Trieb hat. Die Liebe des<lb/> Mannes sinkt merklich von dem Augenblicke an, wo sie Befriedigung erhalten<lb/> hat; fast jedes andre Weib reizt ihn mehr als das, das er schon besitzt; er<lb/> sehnt sich nach Abwechslung. Das sei, meint Schopenhauer, eine sehr weise<lb/> Einrichtung der Natur, die uur den Zweck verfolge, die Gattung auf alle<lb/> mögliche Weise zu erhalten; denn der Mann könne in einem Jahr hundert<lb/> Kinder mit verschiednen Frauen erzeugen, die Frau aber nur ein einziges gebären.<lb/> Der fortwährende Wechsel der Frau sei also dem Mann von der Natur geboten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1724" next="#ID_1725"> Die unerhörte Sophistik und Oberflächlichkeit in diesen Worten leuchtet<lb/> sofort aus der notwendigen Schlußfolgerung ein, daß die Natur zu jedem<lb/> Mann auch hundert Weiber schaffen müßte, wenn sie ein solches Verfahren<lb/> beabsichtigte und die polygamische Begierde des Mannes natürlich und gerecht¬<lb/> fertigt wäre. Nun giebt es aber nichts, was statistisch so sicher dastünde, wie<lb/> die Thatsache, daß im geraden Gegensatz zu Schopenhauers Annahme in alleu<lb/> Ländern mehr männliche als weibliche Wesen geboren werden; denn auf<lb/> 10U Kunden kommen fast überall durchschnittlich 100 Mädchen. Daß sich<lb/> dieses nur für die Monogamie sprechende Verhältnis in höherm Alter etwas</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0616]
Z""> dunkeln Rapüel der Kulturgeschichte
den, die Keuschheit nicht einen Pfifferling wert seien. „Wißt ihr," sagt ein
vielgelesener nordischer Schriftsteller, „daß ein Murr, der sein Leben der Er¬
füllung der steten Enthaltsamkeit widmet, kaum Zeit und Möglichkeit findet,
etwas andres zu thun; seine Kraft wird durch diese ungeheure Selbstkastriruug
aufgebraucht, und seine besten Jahre verrinnen in einem peinlichen Kampfe, dessen
lähmende, um nicht zu sagen zerstörende Einwirkung auf alle Seelenthätigkeiten
nur der ahnen kaun, der ihn selbst in gewissem Maß an sich erfahren hat."
Diese Worte könnte ebenso gut einer vom jüngsten Deutschland geschrieben
haben, denu sie alle sind der Meinung, daß die verfluchte Keuschheit der
Schleier sei, der uns die Wahrheit verhülle, und der jedem Menschen zur
Erlangung echter Glückseligkeit so bald wie möglich heruntergerissen werden
müsse. Der Verfasser der „Konventionellen Lügen" erklärt sogar jeden Maun
für einen Lügner, der behaupte, bis zur Ehe rein geblieben zu sein, denn der
Manu sei kein monogamisches Tier, sondern polygamisch veranlagt. Diese
thörichte Anschauung von der „polygamischen Tendenz" des Mannes, die
selbstverständlich von allen Lüstlingen und charakterlosen Schwachköpfen als
eine willkommne Rechtfertigung für ihre Ausschweifungen benutzt wird, ist
eine von den gefährlichsten Schopeuhauerscheu Irrlehren, die in unsre schön¬
geistige Litteratur eingedrungen find. Sie hat schon manches ruhige Gemüt
in Verwirrung gesetzt und wird noch verderblicher unter unsrer Jugend wirken,
seitdem die Werke dieses Philosophen zu einem Spottpreis über alle Länder
hin verschleudert werden. Ans dem Nnturrecht, sagt Schopenhauer, läßt sich
die Monogamie nicht ableiten; aus dem Naturrecht folgt bloß die Verbindlich¬
keit des Mannes, nur ein Weib zu haben, so lange dieses imstande ist, seinen
Trieb zu befriedigen und selbst einen gleichen Trieb hat. Die Liebe des
Mannes sinkt merklich von dem Augenblicke an, wo sie Befriedigung erhalten
hat; fast jedes andre Weib reizt ihn mehr als das, das er schon besitzt; er
sehnt sich nach Abwechslung. Das sei, meint Schopenhauer, eine sehr weise
Einrichtung der Natur, die uur den Zweck verfolge, die Gattung auf alle
mögliche Weise zu erhalten; denn der Mann könne in einem Jahr hundert
Kinder mit verschiednen Frauen erzeugen, die Frau aber nur ein einziges gebären.
Der fortwährende Wechsel der Frau sei also dem Mann von der Natur geboten.
Die unerhörte Sophistik und Oberflächlichkeit in diesen Worten leuchtet
sofort aus der notwendigen Schlußfolgerung ein, daß die Natur zu jedem
Mann auch hundert Weiber schaffen müßte, wenn sie ein solches Verfahren
beabsichtigte und die polygamische Begierde des Mannes natürlich und gerecht¬
fertigt wäre. Nun giebt es aber nichts, was statistisch so sicher dastünde, wie
die Thatsache, daß im geraden Gegensatz zu Schopenhauers Annahme in alleu
Ländern mehr männliche als weibliche Wesen geboren werden; denn auf
10U Kunden kommen fast überall durchschnittlich 100 Mädchen. Daß sich
dieses nur für die Monogamie sprechende Verhältnis in höherm Alter etwas
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |