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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zum dunkeln Kapitel der Rultnrgeschichte

heit von größerm Segen sein, als alle philosophischen und religiösen Sitten-
lehren zusammeugenomiilen.

Nibbing hat in seinem Buche den Versuch solch einer natürlichen Sitten¬
lehre gemacht, indem er dabei von der Voraussetzung ausgeht, daß alles, was
unnatürlich ist, was körperliche und was seelische Leiden verursacht, ausge¬
rottet werden müsse; da aber die sexuelle Frage vom Standpunkte des Einzelnen
nicht lösbar sei, so müßten die Ergebnisse der Gesellschaftslehre genau beachtet
und daraus der Grundsatz abgeleitet werden, daß niemand das Recht habe,
sich Genüsse zu verschaffen, die andern Menschen Leiden und Qualen bereiteten.
Nun sei es aber einer der gröbsten Irrtümer, in die vor allem die sozial-
demokratische Lehre hineingeraten sei, daß der Geschlechtsgenuß zu den allge¬
meinen Menschenrechten gehöre, und daß es wider die Natur des Menschen
sei, auf diesen Genuß zu verzichten. Hiergegen stellt der schwedische Arzt den
Erfahrungssatz auf: wie das Vorhandensein des Geschlechtstriebes eine mächtige
natürliche Entwicklungskraft darstellt, so ist doch dessen zeitweilige, auch dessen
absolute Beherrschung eine moralische Kulturkraft von außerordentlicher Be¬
deutung. Nibbing hat diese Gedanken vom medizinischen Standpunkt ans
in einer Reihe von Vorlesungen ausgeführt, die er unter großem Beifall vor
den Studenten der Universität Lund gehalten hat. Bei uus in Deutschland,
wo die "zuchtlose Jugend" in der großen Mehrzahl ohne irgendwelche klaren
Vorstellungen von sittlichen Begriffen und Grundsätzen, nur erfüllt von
Widerwillen gegen die eingepaukte dogmatische Sittenlehre, aus der Schule
losgelassen wird und blindlings in den Sumpf geschlechtlicher Verirrungen
hineinstürzt, würden solche Worte eines Professors mit Hohnlachen begrüßt
werden. Es ist traurig, mit anzusehen, wie manche junge Bürschchen in den
großen Universitätsstädten ohne sittlichen Halt drauflos leben, ihre unent¬
wickelten Körperkräfte vergeuden und fahl, schlotternd, ausgemergelt durch die
Straßen dahinschleichen. Wo soll da noch in unsrer studirenden Jugend etwas
von der ii>vxllg,ni>t>ii, xudm'tÄS zu finden sein, die Tacitus an den alten Ger¬
manen rühmt, wenn gewisse studentische Verbindungen wöchentlich ihren soge¬
nannten offiziellen Geschlechtsabend haben, wo es nicht allein erlaubt, sondern
sogar für jeden vom jüngsten Fuchs bis zum bemoosten Haupt eine "mora¬
lische" Verpflichtung ist, in Vensrö zu sündigen! Für die bemoosten giebt es
oft keinen köstlichem Spaß, als die krassen Füchse auf das "Ewig-Weibliche"
loszulassen, und wehe ihnen, wenn sie sich bei dieser Mensur nicht tüchtig
halten oder gar Ekel zeigen wollten. Sinnliche Allsschweifung ist ihnen auch
von jeher als eine notwendige Begleiterin überschäumender Mcmneskrcift und
gottbegnadeter Genialität gepriesen worden, und sogenannte Philosophen und
naturalistische Schriftsteller geben mit ihren sophistischen Beweisen den künst¬
lich herausgeforderten Gelüsten immer neue Nahrung und werden nicht müde,
unsrer Jugend eindringlich klar zu machen, daß die Reinheit, die Enthaltsam?


Zum dunkeln Kapitel der Rultnrgeschichte

heit von größerm Segen sein, als alle philosophischen und religiösen Sitten-
lehren zusammeugenomiilen.

Nibbing hat in seinem Buche den Versuch solch einer natürlichen Sitten¬
lehre gemacht, indem er dabei von der Voraussetzung ausgeht, daß alles, was
unnatürlich ist, was körperliche und was seelische Leiden verursacht, ausge¬
rottet werden müsse; da aber die sexuelle Frage vom Standpunkte des Einzelnen
nicht lösbar sei, so müßten die Ergebnisse der Gesellschaftslehre genau beachtet
und daraus der Grundsatz abgeleitet werden, daß niemand das Recht habe,
sich Genüsse zu verschaffen, die andern Menschen Leiden und Qualen bereiteten.
Nun sei es aber einer der gröbsten Irrtümer, in die vor allem die sozial-
demokratische Lehre hineingeraten sei, daß der Geschlechtsgenuß zu den allge¬
meinen Menschenrechten gehöre, und daß es wider die Natur des Menschen
sei, auf diesen Genuß zu verzichten. Hiergegen stellt der schwedische Arzt den
Erfahrungssatz auf: wie das Vorhandensein des Geschlechtstriebes eine mächtige
natürliche Entwicklungskraft darstellt, so ist doch dessen zeitweilige, auch dessen
absolute Beherrschung eine moralische Kulturkraft von außerordentlicher Be¬
deutung. Nibbing hat diese Gedanken vom medizinischen Standpunkt ans
in einer Reihe von Vorlesungen ausgeführt, die er unter großem Beifall vor
den Studenten der Universität Lund gehalten hat. Bei uus in Deutschland,
wo die „zuchtlose Jugend" in der großen Mehrzahl ohne irgendwelche klaren
Vorstellungen von sittlichen Begriffen und Grundsätzen, nur erfüllt von
Widerwillen gegen die eingepaukte dogmatische Sittenlehre, aus der Schule
losgelassen wird und blindlings in den Sumpf geschlechtlicher Verirrungen
hineinstürzt, würden solche Worte eines Professors mit Hohnlachen begrüßt
werden. Es ist traurig, mit anzusehen, wie manche junge Bürschchen in den
großen Universitätsstädten ohne sittlichen Halt drauflos leben, ihre unent¬
wickelten Körperkräfte vergeuden und fahl, schlotternd, ausgemergelt durch die
Straßen dahinschleichen. Wo soll da noch in unsrer studirenden Jugend etwas
von der ii>vxllg,ni>t>ii, xudm'tÄS zu finden sein, die Tacitus an den alten Ger¬
manen rühmt, wenn gewisse studentische Verbindungen wöchentlich ihren soge¬
nannten offiziellen Geschlechtsabend haben, wo es nicht allein erlaubt, sondern
sogar für jeden vom jüngsten Fuchs bis zum bemoosten Haupt eine „mora¬
lische" Verpflichtung ist, in Vensrö zu sündigen! Für die bemoosten giebt es
oft keinen köstlichem Spaß, als die krassen Füchse auf das „Ewig-Weibliche"
loszulassen, und wehe ihnen, wenn sie sich bei dieser Mensur nicht tüchtig
halten oder gar Ekel zeigen wollten. Sinnliche Allsschweifung ist ihnen auch
von jeher als eine notwendige Begleiterin überschäumender Mcmneskrcift und
gottbegnadeter Genialität gepriesen worden, und sogenannte Philosophen und
naturalistische Schriftsteller geben mit ihren sophistischen Beweisen den künst¬
lich herausgeforderten Gelüsten immer neue Nahrung und werden nicht müde,
unsrer Jugend eindringlich klar zu machen, daß die Reinheit, die Enthaltsam?


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[0615] Zum dunkeln Kapitel der Rultnrgeschichte heit von größerm Segen sein, als alle philosophischen und religiösen Sitten- lehren zusammeugenomiilen. Nibbing hat in seinem Buche den Versuch solch einer natürlichen Sitten¬ lehre gemacht, indem er dabei von der Voraussetzung ausgeht, daß alles, was unnatürlich ist, was körperliche und was seelische Leiden verursacht, ausge¬ rottet werden müsse; da aber die sexuelle Frage vom Standpunkte des Einzelnen nicht lösbar sei, so müßten die Ergebnisse der Gesellschaftslehre genau beachtet und daraus der Grundsatz abgeleitet werden, daß niemand das Recht habe, sich Genüsse zu verschaffen, die andern Menschen Leiden und Qualen bereiteten. Nun sei es aber einer der gröbsten Irrtümer, in die vor allem die sozial- demokratische Lehre hineingeraten sei, daß der Geschlechtsgenuß zu den allge¬ meinen Menschenrechten gehöre, und daß es wider die Natur des Menschen sei, auf diesen Genuß zu verzichten. Hiergegen stellt der schwedische Arzt den Erfahrungssatz auf: wie das Vorhandensein des Geschlechtstriebes eine mächtige natürliche Entwicklungskraft darstellt, so ist doch dessen zeitweilige, auch dessen absolute Beherrschung eine moralische Kulturkraft von außerordentlicher Be¬ deutung. Nibbing hat diese Gedanken vom medizinischen Standpunkt ans in einer Reihe von Vorlesungen ausgeführt, die er unter großem Beifall vor den Studenten der Universität Lund gehalten hat. Bei uus in Deutschland, wo die „zuchtlose Jugend" in der großen Mehrzahl ohne irgendwelche klaren Vorstellungen von sittlichen Begriffen und Grundsätzen, nur erfüllt von Widerwillen gegen die eingepaukte dogmatische Sittenlehre, aus der Schule losgelassen wird und blindlings in den Sumpf geschlechtlicher Verirrungen hineinstürzt, würden solche Worte eines Professors mit Hohnlachen begrüßt werden. Es ist traurig, mit anzusehen, wie manche junge Bürschchen in den großen Universitätsstädten ohne sittlichen Halt drauflos leben, ihre unent¬ wickelten Körperkräfte vergeuden und fahl, schlotternd, ausgemergelt durch die Straßen dahinschleichen. Wo soll da noch in unsrer studirenden Jugend etwas von der ii>vxllg,ni>t>ii, xudm'tÄS zu finden sein, die Tacitus an den alten Ger¬ manen rühmt, wenn gewisse studentische Verbindungen wöchentlich ihren soge¬ nannten offiziellen Geschlechtsabend haben, wo es nicht allein erlaubt, sondern sogar für jeden vom jüngsten Fuchs bis zum bemoosten Haupt eine „mora¬ lische" Verpflichtung ist, in Vensrö zu sündigen! Für die bemoosten giebt es oft keinen köstlichem Spaß, als die krassen Füchse auf das „Ewig-Weibliche" loszulassen, und wehe ihnen, wenn sie sich bei dieser Mensur nicht tüchtig halten oder gar Ekel zeigen wollten. Sinnliche Allsschweifung ist ihnen auch von jeher als eine notwendige Begleiterin überschäumender Mcmneskrcift und gottbegnadeter Genialität gepriesen worden, und sogenannte Philosophen und naturalistische Schriftsteller geben mit ihren sophistischen Beweisen den künst¬ lich herausgeforderten Gelüsten immer neue Nahrung und werden nicht müde, unsrer Jugend eindringlich klar zu machen, daß die Reinheit, die Enthaltsam?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/615>, abgerufen am 24.07.2024.