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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zum dunkeln Äapitel der Kulturgeschichte

schon in frühern Jahrhunderten zu einer festen Ordnung und Erhaltung des
sittlichen Lebens kaum ausgereicht haben, unter den heutigen kirchenfeindlichen
Verhältnissen erst recht nicht mehr die weltbezwingende Kraft besitzen, ganz
allein soziale Gebrechen zu Heilen und unsre Gesellschaft sittlich zu erneuern.
Darüber dürften sich auch unsre Theologen, insbesondre nach Göhres vortreff¬
lichem Buche "Drei Monate Fabrikarbeiter," keinen Täuschungen mehr hin¬
geben. Der religiöse Glaube wirkt viel, insbesondre da, wo er ganz allein
herrscht, aber noch mächtiger wirkt in unsern Tagen die auf Erfahrungen
beruhende, aus der Anschauung oder durch logische Beweise gewonnene Über¬
zeugung und die geheime, aber noch eindringlicher als jede Überzeugung redende
Furcht vor persönlichen Gefahren und körperlichen Schädigungen.

Gesetzgebung und Rechtspflege wären nichts als wesenlose Schatten, vor
denen nur zaghafte Seelen Respekt empfänden, wenn sie nicht Hand in Hand
mit der ausübenden Strafgewalt gingen, die auf jede Rechtsverletzung die
empfindliche Sühne folgen läßt. Was auf dem Boden des bürgerlichen Rechtes
die Strafgewalt ist, die mit ausgleichender Gerechtigkeit den Verurteilten an
seiner Freiheit oder seinem Eigentume schädigt, das ist im sittlichen Leben
gewissermaßen die menschliche Natur selbst. Die Natur ist der Strafrichter,
der jedes sittliche Vergehen, jede tierische Erniedrigung, jede geschlechtliche
Ausschweifung mit unbarmherziger Strenge an dem Organismus des Übel-
thüters ahndet und selbst die schuldlosen Nachkommen bis ins dritte und
vierte Glied mit den empfindlichsten Strafen um Leib und Seele heimsucht.
Ju verrotteten Zeiten sind gewöhnlich die Moralprediger wie die Pilze aus
der Erde geschossen, und je mehr ihrer wurden, je lauter sie ihre warnenden
Stimmen erhoben gegen die herrschenden Laster, gegen innere Verrohung und
geschlechtliche Nersunkeuheit, desto ärger pflegte die Sittenlosigkeit um sich zu
greifen; wir brauchen hierbei nur nu die Kulturgeschichte des sechzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts zu erinnern. In solchen Zeiten sind Moral¬
predigten nutzlos, es müssen andre Mächte ins Feld geführt werdeu. Deun
wo es sich nicht um metaphysische Bedürfnisse und religiöse Bewegungen
handelt, sondern um das Wohl und Wehe unsers irdischen Leibes, um den
Zustand unsers Blutes, unsrer Nerven und Muskeln, d. h. um die körperliche
Gesundheit unsrer Nachkommenschaft. dn hat die Erfahrungswissenschaft das
Recht und die Pflicht, ein ernstes Wort mitzureden und dort den sittlichen
Gesetzen Geltung zu verschaffen, wo man über philosophische und religiöse
Vorschriften leichtfertig hinwegschreitet. Hier ist die einzige Stelle, wo sich
Dogma und Naturwissenschaft friedlich die Hand reichen, denn auf keinem
Gebiete kaun die Erfahrung den christlichen Geboten einen kräftigern Rückhalt
bieten, als auf dem des Geschlechtslebens. Eine Mliiea, rmwi-g-Il" Mxrmlis,
die sich auf die Erfahrungen der Physiologie und der Pathologie stützte,
würde sür unsre Gesellschaft, ja für den gesamten Kulturfortschritt der Mensch-


Zum dunkeln Äapitel der Kulturgeschichte

schon in frühern Jahrhunderten zu einer festen Ordnung und Erhaltung des
sittlichen Lebens kaum ausgereicht haben, unter den heutigen kirchenfeindlichen
Verhältnissen erst recht nicht mehr die weltbezwingende Kraft besitzen, ganz
allein soziale Gebrechen zu Heilen und unsre Gesellschaft sittlich zu erneuern.
Darüber dürften sich auch unsre Theologen, insbesondre nach Göhres vortreff¬
lichem Buche „Drei Monate Fabrikarbeiter," keinen Täuschungen mehr hin¬
geben. Der religiöse Glaube wirkt viel, insbesondre da, wo er ganz allein
herrscht, aber noch mächtiger wirkt in unsern Tagen die auf Erfahrungen
beruhende, aus der Anschauung oder durch logische Beweise gewonnene Über¬
zeugung und die geheime, aber noch eindringlicher als jede Überzeugung redende
Furcht vor persönlichen Gefahren und körperlichen Schädigungen.

Gesetzgebung und Rechtspflege wären nichts als wesenlose Schatten, vor
denen nur zaghafte Seelen Respekt empfänden, wenn sie nicht Hand in Hand
mit der ausübenden Strafgewalt gingen, die auf jede Rechtsverletzung die
empfindliche Sühne folgen läßt. Was auf dem Boden des bürgerlichen Rechtes
die Strafgewalt ist, die mit ausgleichender Gerechtigkeit den Verurteilten an
seiner Freiheit oder seinem Eigentume schädigt, das ist im sittlichen Leben
gewissermaßen die menschliche Natur selbst. Die Natur ist der Strafrichter,
der jedes sittliche Vergehen, jede tierische Erniedrigung, jede geschlechtliche
Ausschweifung mit unbarmherziger Strenge an dem Organismus des Übel-
thüters ahndet und selbst die schuldlosen Nachkommen bis ins dritte und
vierte Glied mit den empfindlichsten Strafen um Leib und Seele heimsucht.
Ju verrotteten Zeiten sind gewöhnlich die Moralprediger wie die Pilze aus
der Erde geschossen, und je mehr ihrer wurden, je lauter sie ihre warnenden
Stimmen erhoben gegen die herrschenden Laster, gegen innere Verrohung und
geschlechtliche Nersunkeuheit, desto ärger pflegte die Sittenlosigkeit um sich zu
greifen; wir brauchen hierbei nur nu die Kulturgeschichte des sechzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts zu erinnern. In solchen Zeiten sind Moral¬
predigten nutzlos, es müssen andre Mächte ins Feld geführt werdeu. Deun
wo es sich nicht um metaphysische Bedürfnisse und religiöse Bewegungen
handelt, sondern um das Wohl und Wehe unsers irdischen Leibes, um den
Zustand unsers Blutes, unsrer Nerven und Muskeln, d. h. um die körperliche
Gesundheit unsrer Nachkommenschaft. dn hat die Erfahrungswissenschaft das
Recht und die Pflicht, ein ernstes Wort mitzureden und dort den sittlichen
Gesetzen Geltung zu verschaffen, wo man über philosophische und religiöse
Vorschriften leichtfertig hinwegschreitet. Hier ist die einzige Stelle, wo sich
Dogma und Naturwissenschaft friedlich die Hand reichen, denn auf keinem
Gebiete kaun die Erfahrung den christlichen Geboten einen kräftigern Rückhalt
bieten, als auf dem des Geschlechtslebens. Eine Mliiea, rmwi-g-Il« Mxrmlis,
die sich auf die Erfahrungen der Physiologie und der Pathologie stützte,
würde sür unsre Gesellschaft, ja für den gesamten Kulturfortschritt der Mensch-


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[0614] Zum dunkeln Äapitel der Kulturgeschichte schon in frühern Jahrhunderten zu einer festen Ordnung und Erhaltung des sittlichen Lebens kaum ausgereicht haben, unter den heutigen kirchenfeindlichen Verhältnissen erst recht nicht mehr die weltbezwingende Kraft besitzen, ganz allein soziale Gebrechen zu Heilen und unsre Gesellschaft sittlich zu erneuern. Darüber dürften sich auch unsre Theologen, insbesondre nach Göhres vortreff¬ lichem Buche „Drei Monate Fabrikarbeiter," keinen Täuschungen mehr hin¬ geben. Der religiöse Glaube wirkt viel, insbesondre da, wo er ganz allein herrscht, aber noch mächtiger wirkt in unsern Tagen die auf Erfahrungen beruhende, aus der Anschauung oder durch logische Beweise gewonnene Über¬ zeugung und die geheime, aber noch eindringlicher als jede Überzeugung redende Furcht vor persönlichen Gefahren und körperlichen Schädigungen. Gesetzgebung und Rechtspflege wären nichts als wesenlose Schatten, vor denen nur zaghafte Seelen Respekt empfänden, wenn sie nicht Hand in Hand mit der ausübenden Strafgewalt gingen, die auf jede Rechtsverletzung die empfindliche Sühne folgen läßt. Was auf dem Boden des bürgerlichen Rechtes die Strafgewalt ist, die mit ausgleichender Gerechtigkeit den Verurteilten an seiner Freiheit oder seinem Eigentume schädigt, das ist im sittlichen Leben gewissermaßen die menschliche Natur selbst. Die Natur ist der Strafrichter, der jedes sittliche Vergehen, jede tierische Erniedrigung, jede geschlechtliche Ausschweifung mit unbarmherziger Strenge an dem Organismus des Übel- thüters ahndet und selbst die schuldlosen Nachkommen bis ins dritte und vierte Glied mit den empfindlichsten Strafen um Leib und Seele heimsucht. Ju verrotteten Zeiten sind gewöhnlich die Moralprediger wie die Pilze aus der Erde geschossen, und je mehr ihrer wurden, je lauter sie ihre warnenden Stimmen erhoben gegen die herrschenden Laster, gegen innere Verrohung und geschlechtliche Nersunkeuheit, desto ärger pflegte die Sittenlosigkeit um sich zu greifen; wir brauchen hierbei nur nu die Kulturgeschichte des sechzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zu erinnern. In solchen Zeiten sind Moral¬ predigten nutzlos, es müssen andre Mächte ins Feld geführt werdeu. Deun wo es sich nicht um metaphysische Bedürfnisse und religiöse Bewegungen handelt, sondern um das Wohl und Wehe unsers irdischen Leibes, um den Zustand unsers Blutes, unsrer Nerven und Muskeln, d. h. um die körperliche Gesundheit unsrer Nachkommenschaft. dn hat die Erfahrungswissenschaft das Recht und die Pflicht, ein ernstes Wort mitzureden und dort den sittlichen Gesetzen Geltung zu verschaffen, wo man über philosophische und religiöse Vorschriften leichtfertig hinwegschreitet. Hier ist die einzige Stelle, wo sich Dogma und Naturwissenschaft friedlich die Hand reichen, denn auf keinem Gebiete kaun die Erfahrung den christlichen Geboten einen kräftigern Rückhalt bieten, als auf dem des Geschlechtslebens. Eine Mliiea, rmwi-g-Il« Mxrmlis, die sich auf die Erfahrungen der Physiologie und der Pathologie stützte, würde sür unsre Gesellschaft, ja für den gesamten Kulturfortschritt der Mensch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/614>, abgerufen am 04.07.2024.