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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

that ganz unmerklich im stillen germanisirt, bloß durch die Anziehungskraft
der erfreuliche" Zustände, die sie schufen.

So gelangen wir denn auch auf diesem Wege zu dem im vorigen Ab¬
schnitt aufgestellten Ideal: einer Zentralgewalt, die stark genug wäre, das
Vaterland gegen den ünßern Feind zu schützen, im Innern eine uicht zu
pedantische Ordnung aufrecht zu erhalten und große nationale Aufgaben, wie
die Anlage von Schiffahrtskanälen, zu lösen, verbunden mit einer Selbst¬
verwaltung der Gemeinden, Landschaften und Körperschaften, die eine freie
Entfaltung der Individualitäten gestattete und jedem Einzelnen die Mitwirkung
an den öffentlichen Angelegenheiten ermöglichte. Das letzte leistet der Kon-
stitutionalismus uur sehr unvollkommen. Denn bei der ungeheuer" Größe
der Staaten ist den Einzelnen ein unmittelbares Eingreifen nicht möglich; ihre
Arbeit am Gemeinwohl beschränkt sich auf Zeitunglesen, Bierstubengeschwätz
und eine oder zwei Abstimmungen in fünf Jahren, bei denen sie, mehr von
Zufällen als durch vernünftige Überlegung geleitet, ein Gewicht von mikro¬
skopischer Kleinheit in die Wagschale der Entscheidungen werfen. Sie haben
niemals das Bewußtsein, etwas geleistet zu haben. Der Bürger einer Kleinstadt,
der sich an deren Regierung beteiligt, der Genosse einer Innung oder eines
Gewerkvereins, die haben dieses Bewußtsein; dort Scheinarbeit an einem großen,
hier wirkliche an einem kleinen Gemeinwesen. Aber immerhin, so lange das
Ideal nicht verwirklicht ist, bewahrt der Konstitutionalismus wenigstens vor
Erstarrung; darum sollten wir die Parteikämpfe, die er hervorruft, uicht be¬
klagen, sondern als Zeichen des wiedererstandenen Lebens willkommen heißen.

Vergleichen Nur die Parteikämpfe des heutigen Großstaates mit denen der
frühern Kleinstaaten, so sehen wir, daß jene gewaltthätiger und roher geführt
wurden mit Straßenkämpfen, Verbannungen, Hinrichtungen, Häusereiureißen
und Mordbrennereien, während bei den unsrigen das endlose Geschimpf und
Geschwätz, das leider durch den Druck verewigt wird, Ekel erregt. Welche
der beiden Fechtweisen man vorziehen will, das ist Geschmacksache. Die
Interessen, um die es sich in beiden Fällen handelt, sind nicht wesentlich von
einander verschieden: Standes- und Familieninteressen, Ehrgeiz, Habsucht,
Herrschsucht, Thatendrang einzelner Personen, politische Ideale, Gemeinde-
und Landschaftsinteressen, Glaubensmeinungen; nur ballen sich im modernen
Großstaate ganze, dnrch verschiedne Landesteile verbreitete Bevölkerungsschichten
unter dem Druck und Zug gleichartiger Notstände und Interessen zu großen
Massen zusammen, und manche Interessenkonflikte schieben sich aus dem Innern
bis an die Landesgrenze vor, indem ganze Völker und Staaten mit einander
wegen des Broterwerbes in Streit geraten. Die einzige wirklich große Gefahr,
die in dein Gewirr unsrer heutigen Interessenkonflikte lauert, besteht in der
Tendenz zur Spaltung der Völker in eine kleine Klasse von Kapitalisten und
ein die Masse des Volkes verschlingendes Proletariat.




Geschichtsphilosophische Gedanken

that ganz unmerklich im stillen germanisirt, bloß durch die Anziehungskraft
der erfreuliche« Zustände, die sie schufen.

So gelangen wir denn auch auf diesem Wege zu dem im vorigen Ab¬
schnitt aufgestellten Ideal: einer Zentralgewalt, die stark genug wäre, das
Vaterland gegen den ünßern Feind zu schützen, im Innern eine uicht zu
pedantische Ordnung aufrecht zu erhalten und große nationale Aufgaben, wie
die Anlage von Schiffahrtskanälen, zu lösen, verbunden mit einer Selbst¬
verwaltung der Gemeinden, Landschaften und Körperschaften, die eine freie
Entfaltung der Individualitäten gestattete und jedem Einzelnen die Mitwirkung
an den öffentlichen Angelegenheiten ermöglichte. Das letzte leistet der Kon-
stitutionalismus uur sehr unvollkommen. Denn bei der ungeheuer» Größe
der Staaten ist den Einzelnen ein unmittelbares Eingreifen nicht möglich; ihre
Arbeit am Gemeinwohl beschränkt sich auf Zeitunglesen, Bierstubengeschwätz
und eine oder zwei Abstimmungen in fünf Jahren, bei denen sie, mehr von
Zufällen als durch vernünftige Überlegung geleitet, ein Gewicht von mikro¬
skopischer Kleinheit in die Wagschale der Entscheidungen werfen. Sie haben
niemals das Bewußtsein, etwas geleistet zu haben. Der Bürger einer Kleinstadt,
der sich an deren Regierung beteiligt, der Genosse einer Innung oder eines
Gewerkvereins, die haben dieses Bewußtsein; dort Scheinarbeit an einem großen,
hier wirkliche an einem kleinen Gemeinwesen. Aber immerhin, so lange das
Ideal nicht verwirklicht ist, bewahrt der Konstitutionalismus wenigstens vor
Erstarrung; darum sollten wir die Parteikämpfe, die er hervorruft, uicht be¬
klagen, sondern als Zeichen des wiedererstandenen Lebens willkommen heißen.

Vergleichen Nur die Parteikämpfe des heutigen Großstaates mit denen der
frühern Kleinstaaten, so sehen wir, daß jene gewaltthätiger und roher geführt
wurden mit Straßenkämpfen, Verbannungen, Hinrichtungen, Häusereiureißen
und Mordbrennereien, während bei den unsrigen das endlose Geschimpf und
Geschwätz, das leider durch den Druck verewigt wird, Ekel erregt. Welche
der beiden Fechtweisen man vorziehen will, das ist Geschmacksache. Die
Interessen, um die es sich in beiden Fällen handelt, sind nicht wesentlich von
einander verschieden: Standes- und Familieninteressen, Ehrgeiz, Habsucht,
Herrschsucht, Thatendrang einzelner Personen, politische Ideale, Gemeinde-
und Landschaftsinteressen, Glaubensmeinungen; nur ballen sich im modernen
Großstaate ganze, dnrch verschiedne Landesteile verbreitete Bevölkerungsschichten
unter dem Druck und Zug gleichartiger Notstände und Interessen zu großen
Massen zusammen, und manche Interessenkonflikte schieben sich aus dem Innern
bis an die Landesgrenze vor, indem ganze Völker und Staaten mit einander
wegen des Broterwerbes in Streit geraten. Die einzige wirklich große Gefahr,
die in dein Gewirr unsrer heutigen Interessenkonflikte lauert, besteht in der
Tendenz zur Spaltung der Völker in eine kleine Klasse von Kapitalisten und
ein die Masse des Volkes verschlingendes Proletariat.




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[0612] Geschichtsphilosophische Gedanken that ganz unmerklich im stillen germanisirt, bloß durch die Anziehungskraft der erfreuliche« Zustände, die sie schufen. So gelangen wir denn auch auf diesem Wege zu dem im vorigen Ab¬ schnitt aufgestellten Ideal: einer Zentralgewalt, die stark genug wäre, das Vaterland gegen den ünßern Feind zu schützen, im Innern eine uicht zu pedantische Ordnung aufrecht zu erhalten und große nationale Aufgaben, wie die Anlage von Schiffahrtskanälen, zu lösen, verbunden mit einer Selbst¬ verwaltung der Gemeinden, Landschaften und Körperschaften, die eine freie Entfaltung der Individualitäten gestattete und jedem Einzelnen die Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten ermöglichte. Das letzte leistet der Kon- stitutionalismus uur sehr unvollkommen. Denn bei der ungeheuer» Größe der Staaten ist den Einzelnen ein unmittelbares Eingreifen nicht möglich; ihre Arbeit am Gemeinwohl beschränkt sich auf Zeitunglesen, Bierstubengeschwätz und eine oder zwei Abstimmungen in fünf Jahren, bei denen sie, mehr von Zufällen als durch vernünftige Überlegung geleitet, ein Gewicht von mikro¬ skopischer Kleinheit in die Wagschale der Entscheidungen werfen. Sie haben niemals das Bewußtsein, etwas geleistet zu haben. Der Bürger einer Kleinstadt, der sich an deren Regierung beteiligt, der Genosse einer Innung oder eines Gewerkvereins, die haben dieses Bewußtsein; dort Scheinarbeit an einem großen, hier wirkliche an einem kleinen Gemeinwesen. Aber immerhin, so lange das Ideal nicht verwirklicht ist, bewahrt der Konstitutionalismus wenigstens vor Erstarrung; darum sollten wir die Parteikämpfe, die er hervorruft, uicht be¬ klagen, sondern als Zeichen des wiedererstandenen Lebens willkommen heißen. Vergleichen Nur die Parteikämpfe des heutigen Großstaates mit denen der frühern Kleinstaaten, so sehen wir, daß jene gewaltthätiger und roher geführt wurden mit Straßenkämpfen, Verbannungen, Hinrichtungen, Häusereiureißen und Mordbrennereien, während bei den unsrigen das endlose Geschimpf und Geschwätz, das leider durch den Druck verewigt wird, Ekel erregt. Welche der beiden Fechtweisen man vorziehen will, das ist Geschmacksache. Die Interessen, um die es sich in beiden Fällen handelt, sind nicht wesentlich von einander verschieden: Standes- und Familieninteressen, Ehrgeiz, Habsucht, Herrschsucht, Thatendrang einzelner Personen, politische Ideale, Gemeinde- und Landschaftsinteressen, Glaubensmeinungen; nur ballen sich im modernen Großstaate ganze, dnrch verschiedne Landesteile verbreitete Bevölkerungsschichten unter dem Druck und Zug gleichartiger Notstände und Interessen zu großen Massen zusammen, und manche Interessenkonflikte schieben sich aus dem Innern bis an die Landesgrenze vor, indem ganze Völker und Staaten mit einander wegen des Broterwerbes in Streit geraten. Die einzige wirklich große Gefahr, die in dein Gewirr unsrer heutigen Interessenkonflikte lauert, besteht in der Tendenz zur Spaltung der Völker in eine kleine Klasse von Kapitalisten und ein die Masse des Volkes verschlingendes Proletariat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/612>, abgerufen am 24.07.2024.