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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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ander" zu wehren, treibt alle in der Menschennatur liegenden Kräfte und
Anlagen hervor (vorausgesetzt, daß der Kampfplatz eng begrenzt bleibt).

Eine friedliche Ordnung, in der Millionen mittelmäßiger und unbedeutender
Menschen jeder sich selbst und alle zusammen das Ganze leidlich erhalten,
läszt sich am besten im zentralisirteu Großstaate herstellen. Aber die Weisheit
der Wenigen, die das große Ganze kunstvoll aufbauen und mit gewaltiger
Hand regieren, ist das Erbteil älterer Kulturen, die nur durch originelle Geister
geschaffen werden konnten. Für die Entfaltung origineller Geister bietet der
bereits fertige wohlgeordnete Großstaat, der schon den Knaben und den Jüngling
in die seinen Zwecken dienliche Bildungsform einzwängt, nur ausnahmsweise
die Möglichkeit dar. Jene originellen Geister, deren Werke uns Heutigen das
Glück der Originalität wenigstens noch in der Vorstellung genießen lasse",
konnte" nur in Verhältnissen gedeihen, wo es jedem Einzelnen frei stand, sich
nach Belieben auf seine Weise zu bilden, und wo jeder zeitlebens, ohne in
dem Joch einer vorgeschriebenen und abgezirkelten Wirksamkeit der Routine
zu verfallen, in beständiger Reibung mit immer andern Personen und in: be¬
ständigen Wechsel der Verhältnisse aus einer Lage in die andre geriet. Das
sieht jeder leicht ein, und darum wird es kein Verständiger bedaner", daß de"
Italienern -- und auch uns Deutschen -- das Glück des Einheitsstaates erst
so spät beschert worden ist. Aber was man uicht durch Nachdenken finden,
sondern nur aus geschichtliche!? Urkunden lernen kann, das ist die überraschende
Thatsache, daß diese kleinen Gemeinwesen bei aller Uneinigkeit unter einander
und bei dem Wüten der Parteikämpfe im Schoße eines jeden mit wunderbarer
Klarheit das ihnen Zusagende erkannten und, wo es sich um ihre Daseins-
bedingungen handelte, mit wunderbarer Einmütigkeit die richtigen Entschließungen
trafen. Das merkwürdigste Beispiel solcher Einmütigkeit ohne jede äußerliche
einigende Zwangsgewalt hat Leo noch gar nicht gekannt. Es ist der Wider¬
stand, den Florenz von 1311--1313 dem Luxemburger geleistet hat. Dieser
Kampf -- uicht Krieg, denn die ausgeführten Kriegsthaten sind nicht der
Rede wert -- kaun erst beurteilt werden, seitdem die Kvrrespoudeiiz der Re¬
publik aus jenen Jahren erschiene" ist (1877, "ach denn Tode des Heraus¬
gebers Bouaini). Sie ist fast vollständig erhalten und läßt uns, von un¬
bedeutenden Lücken abgesehen, die Schritte der Signoria Tag für Tag verfolgen.
Wir sehen, wie sie anfangs vorsichtig abwartet und sich mit dem heraurückeiidc"
Kaiser auf guten Fuß zu stellen sucht, so lange sein Römerzug als bloßer
Krönnngszug augesehen werden konnte. Sobald sie aber inne wird, daß sich
Heinrich nicht mit einer idealen Kaiserwürde begnügt, sondern in allem Ernste
das Königtum aufrichtet, Stadt um Stadt "reformirt," d. h. eine von ihm
abhängige Behörde darin einsetzt und Abgaben erhebt, das widerstrebende
Brescia belagert, steht ihr Entschluß fest, sich dem Kaiser in einem Kampfe
auf Leben und Tod entgegenzustellen. Unermüdlich arbeitet nun ihre Diplo-


ander» zu wehren, treibt alle in der Menschennatur liegenden Kräfte und
Anlagen hervor (vorausgesetzt, daß der Kampfplatz eng begrenzt bleibt).

Eine friedliche Ordnung, in der Millionen mittelmäßiger und unbedeutender
Menschen jeder sich selbst und alle zusammen das Ganze leidlich erhalten,
läszt sich am besten im zentralisirteu Großstaate herstellen. Aber die Weisheit
der Wenigen, die das große Ganze kunstvoll aufbauen und mit gewaltiger
Hand regieren, ist das Erbteil älterer Kulturen, die nur durch originelle Geister
geschaffen werden konnten. Für die Entfaltung origineller Geister bietet der
bereits fertige wohlgeordnete Großstaat, der schon den Knaben und den Jüngling
in die seinen Zwecken dienliche Bildungsform einzwängt, nur ausnahmsweise
die Möglichkeit dar. Jene originellen Geister, deren Werke uns Heutigen das
Glück der Originalität wenigstens noch in der Vorstellung genießen lasse»,
konnte» nur in Verhältnissen gedeihen, wo es jedem Einzelnen frei stand, sich
nach Belieben auf seine Weise zu bilden, und wo jeder zeitlebens, ohne in
dem Joch einer vorgeschriebenen und abgezirkelten Wirksamkeit der Routine
zu verfallen, in beständiger Reibung mit immer andern Personen und in: be¬
ständigen Wechsel der Verhältnisse aus einer Lage in die andre geriet. Das
sieht jeder leicht ein, und darum wird es kein Verständiger bedaner», daß de»
Italienern — und auch uns Deutschen — das Glück des Einheitsstaates erst
so spät beschert worden ist. Aber was man uicht durch Nachdenken finden,
sondern nur aus geschichtliche!? Urkunden lernen kann, das ist die überraschende
Thatsache, daß diese kleinen Gemeinwesen bei aller Uneinigkeit unter einander
und bei dem Wüten der Parteikämpfe im Schoße eines jeden mit wunderbarer
Klarheit das ihnen Zusagende erkannten und, wo es sich um ihre Daseins-
bedingungen handelte, mit wunderbarer Einmütigkeit die richtigen Entschließungen
trafen. Das merkwürdigste Beispiel solcher Einmütigkeit ohne jede äußerliche
einigende Zwangsgewalt hat Leo noch gar nicht gekannt. Es ist der Wider¬
stand, den Florenz von 1311—1313 dem Luxemburger geleistet hat. Dieser
Kampf — uicht Krieg, denn die ausgeführten Kriegsthaten sind nicht der
Rede wert — kaun erst beurteilt werden, seitdem die Kvrrespoudeiiz der Re¬
publik aus jenen Jahren erschiene» ist (1877, »ach denn Tode des Heraus¬
gebers Bouaini). Sie ist fast vollständig erhalten und läßt uns, von un¬
bedeutenden Lücken abgesehen, die Schritte der Signoria Tag für Tag verfolgen.
Wir sehen, wie sie anfangs vorsichtig abwartet und sich mit dem heraurückeiidc»
Kaiser auf guten Fuß zu stellen sucht, so lange sein Römerzug als bloßer
Krönnngszug augesehen werden konnte. Sobald sie aber inne wird, daß sich
Heinrich nicht mit einer idealen Kaiserwürde begnügt, sondern in allem Ernste
das Königtum aufrichtet, Stadt um Stadt „reformirt," d. h. eine von ihm
abhängige Behörde darin einsetzt und Abgaben erhebt, das widerstrebende
Brescia belagert, steht ihr Entschluß fest, sich dem Kaiser in einem Kampfe
auf Leben und Tod entgegenzustellen. Unermüdlich arbeitet nun ihre Diplo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/608>, abgerufen am 24.07.2024.