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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Ungeschicklichkeit hatten die Proportion der Natur verwahrloset und aus der
Acht gelassen" -- das ist der Kern der Beweisführung. In den seltsamsten
Figuren, so wird weiter auseinandergesetzt, stellen sich diese gotischen Schlösser
und Tempel dein Beschauer dar. Die Alten scheinen sie "mit Fleisse gebauet
zu haben, um durch die ummtürliche Extravagautz, die wir darinnen finden,
ein Gelächter zu erwecken. Diese phantastischen Baumeister haben die Schön¬
heit eines Gebäudes in seiner ungemessenen Größe und seinen Zierrathen ge¬
sucht." Aber gottlob! die Zeiten der Barbarei und des Ungeschmacks sind
vorüber; eine neue Zeit geläuterten Formensinnes ist angebrochen. "Man
hat sich seit einem Sooulo von der Gothischen Krankheit zu bauen erholet, die
wahre Proportion der Natur ist wieder gesundem, worden, und zu gleicher
Zeit hat die Veränderung der Moden zu bauen nusgehört, die heutigen Ge¬
bäude behalten durchgehend die Form der natürlichen Schönheit." Als neues
Vorbild wird bald darauf die griechische Kunst ausgerufen.


Was Gothisch ist zu fliehn, was Griechisch ist, zu schätzen

Wird die Losung (1742). Es ist bekannt, was es mit dieser Hellenisirung
des Geschmackes ans sich hatte, wie unbefangen in diesem Psendogrüeismus
der Geist des Jahrhunderts sein Spiel trieb. Auch das nun auf deu Schild
gehobene Griechentum mußte sich einen starken Beigeschmack des Artige" und
Galanten gefallen lassen.

Das Gesellschaftsleben, die Dichtung, die Kunst, sie alle offenbaren also
denselben Grundzug. Um freiesten entfaltete sich, begünstigt durch das Zu¬
sammenwirken verschiedener Umstände, das Wesen artig-galanter Kultur in
Kursachsen. Es ist ja auch vou Semper geradezu als Heimatland des Rokoko
in Anspruch genommen worden. Im guten und schlimmen Sinne heißt es
das galante Sachsen. I.a Kax<z gillirnt,"? nennt sich die Erzählung der Liebes¬
abenteuer des von deu Zeitgenossen als das Ideal höfischer Galanterie be¬
wunderten August des Starken, des großen Virtuosen des Sinnengenusses.
Man denke sich uuter dem Buche kein in taeiteischen Farben gehaltenes
Sittenbild. Mit innigem Behagen entrollt der in Einzelheiten wenig zu¬
verlässige Schwätzer Pöllnitz ein Gemälde höfischer Sittenlosigkeit und lüsterner
Frivolität. Ihr blendender Schein bestach selbst das Urteil ernstgesinnter
Geister und machte sie unempfindlich gegen die sittliche Hohlheit, die sich uuter
gefälligen Formen so angenehm zu verhüllen wußte.


Gepriesues Sachseulaud, erkenne doch dein Glück
Und sieh die Fastnachtslust mit einem schärfer" Blick

sang alles Ernstes der ehrenfeste Gottsched, der eifrige Hüter guter bürger¬
licher Sitte. Als "der Sachsen Paradies" erschien Günthers begeisterter
Muse Dresden. Während hier in der schwülen Luft eiues sittenlosen .Hof-


Ungeschicklichkeit hatten die Proportion der Natur verwahrloset und aus der
Acht gelassen" — das ist der Kern der Beweisführung. In den seltsamsten
Figuren, so wird weiter auseinandergesetzt, stellen sich diese gotischen Schlösser
und Tempel dein Beschauer dar. Die Alten scheinen sie „mit Fleisse gebauet
zu haben, um durch die ummtürliche Extravagautz, die wir darinnen finden,
ein Gelächter zu erwecken. Diese phantastischen Baumeister haben die Schön¬
heit eines Gebäudes in seiner ungemessenen Größe und seinen Zierrathen ge¬
sucht." Aber gottlob! die Zeiten der Barbarei und des Ungeschmacks sind
vorüber; eine neue Zeit geläuterten Formensinnes ist angebrochen. „Man
hat sich seit einem Sooulo von der Gothischen Krankheit zu bauen erholet, die
wahre Proportion der Natur ist wieder gesundem, worden, und zu gleicher
Zeit hat die Veränderung der Moden zu bauen nusgehört, die heutigen Ge¬
bäude behalten durchgehend die Form der natürlichen Schönheit." Als neues
Vorbild wird bald darauf die griechische Kunst ausgerufen.


Was Gothisch ist zu fliehn, was Griechisch ist, zu schätzen

Wird die Losung (1742). Es ist bekannt, was es mit dieser Hellenisirung
des Geschmackes ans sich hatte, wie unbefangen in diesem Psendogrüeismus
der Geist des Jahrhunderts sein Spiel trieb. Auch das nun auf deu Schild
gehobene Griechentum mußte sich einen starken Beigeschmack des Artige» und
Galanten gefallen lassen.

Das Gesellschaftsleben, die Dichtung, die Kunst, sie alle offenbaren also
denselben Grundzug. Um freiesten entfaltete sich, begünstigt durch das Zu¬
sammenwirken verschiedener Umstände, das Wesen artig-galanter Kultur in
Kursachsen. Es ist ja auch vou Semper geradezu als Heimatland des Rokoko
in Anspruch genommen worden. Im guten und schlimmen Sinne heißt es
das galante Sachsen. I.a Kax<z gillirnt,«? nennt sich die Erzählung der Liebes¬
abenteuer des von deu Zeitgenossen als das Ideal höfischer Galanterie be¬
wunderten August des Starken, des großen Virtuosen des Sinnengenusses.
Man denke sich uuter dem Buche kein in taeiteischen Farben gehaltenes
Sittenbild. Mit innigem Behagen entrollt der in Einzelheiten wenig zu¬
verlässige Schwätzer Pöllnitz ein Gemälde höfischer Sittenlosigkeit und lüsterner
Frivolität. Ihr blendender Schein bestach selbst das Urteil ernstgesinnter
Geister und machte sie unempfindlich gegen die sittliche Hohlheit, die sich uuter
gefälligen Formen so angenehm zu verhüllen wußte.


Gepriesues Sachseulaud, erkenne doch dein Glück
Und sieh die Fastnachtslust mit einem schärfer» Blick

sang alles Ernstes der ehrenfeste Gottsched, der eifrige Hüter guter bürger¬
licher Sitte. Als „der Sachsen Paradies" erschien Günthers begeisterter
Muse Dresden. Während hier in der schwülen Luft eiues sittenlosen .Hof-


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[0587] Ungeschicklichkeit hatten die Proportion der Natur verwahrloset und aus der Acht gelassen" — das ist der Kern der Beweisführung. In den seltsamsten Figuren, so wird weiter auseinandergesetzt, stellen sich diese gotischen Schlösser und Tempel dein Beschauer dar. Die Alten scheinen sie „mit Fleisse gebauet zu haben, um durch die ummtürliche Extravagautz, die wir darinnen finden, ein Gelächter zu erwecken. Diese phantastischen Baumeister haben die Schön¬ heit eines Gebäudes in seiner ungemessenen Größe und seinen Zierrathen ge¬ sucht." Aber gottlob! die Zeiten der Barbarei und des Ungeschmacks sind vorüber; eine neue Zeit geläuterten Formensinnes ist angebrochen. „Man hat sich seit einem Sooulo von der Gothischen Krankheit zu bauen erholet, die wahre Proportion der Natur ist wieder gesundem, worden, und zu gleicher Zeit hat die Veränderung der Moden zu bauen nusgehört, die heutigen Ge¬ bäude behalten durchgehend die Form der natürlichen Schönheit." Als neues Vorbild wird bald darauf die griechische Kunst ausgerufen. Was Gothisch ist zu fliehn, was Griechisch ist, zu schätzen Wird die Losung (1742). Es ist bekannt, was es mit dieser Hellenisirung des Geschmackes ans sich hatte, wie unbefangen in diesem Psendogrüeismus der Geist des Jahrhunderts sein Spiel trieb. Auch das nun auf deu Schild gehobene Griechentum mußte sich einen starken Beigeschmack des Artige» und Galanten gefallen lassen. Das Gesellschaftsleben, die Dichtung, die Kunst, sie alle offenbaren also denselben Grundzug. Um freiesten entfaltete sich, begünstigt durch das Zu¬ sammenwirken verschiedener Umstände, das Wesen artig-galanter Kultur in Kursachsen. Es ist ja auch vou Semper geradezu als Heimatland des Rokoko in Anspruch genommen worden. Im guten und schlimmen Sinne heißt es das galante Sachsen. I.a Kax<z gillirnt,«? nennt sich die Erzählung der Liebes¬ abenteuer des von deu Zeitgenossen als das Ideal höfischer Galanterie be¬ wunderten August des Starken, des großen Virtuosen des Sinnengenusses. Man denke sich uuter dem Buche kein in taeiteischen Farben gehaltenes Sittenbild. Mit innigem Behagen entrollt der in Einzelheiten wenig zu¬ verlässige Schwätzer Pöllnitz ein Gemälde höfischer Sittenlosigkeit und lüsterner Frivolität. Ihr blendender Schein bestach selbst das Urteil ernstgesinnter Geister und machte sie unempfindlich gegen die sittliche Hohlheit, die sich uuter gefälligen Formen so angenehm zu verhüllen wußte. Gepriesues Sachseulaud, erkenne doch dein Glück Und sieh die Fastnachtslust mit einem schärfer» Blick sang alles Ernstes der ehrenfeste Gottsched, der eifrige Hüter guter bürger¬ licher Sitte. Als „der Sachsen Paradies" erschien Günthers begeisterter Muse Dresden. Während hier in der schwülen Luft eiues sittenlosen .Hof-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/587>, abgerufen am 24.07.2024.