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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hamlet und seine Ausleger

die Veränderung zu staunen, die uns der ästhetisirenden Nation Schillers und
Goethes, der philosophirenden Knuts und Hegels ein Volk von in-rttsr ok
ürvt nisu gemacht habe. Tiefer blickende Beobachter sehe" aber, daß seine
Charnltereigeuschafteu im wesentlichen dieselben geblieben sind. Sind doch
selbst die großen Ruhmesthaten der letzten Jahrzehnte, wie es die Vorgeschichte
der drei großen Kriege und die Anfange deutscher Kolonialpolitik deutlich
erweisen, recht eigentlich im Kampfe mit jenen Charaktereigenschaften dank der
unbeugsamen Energie einzelner entschlosseneren Naturen zustande gekommen.

Ähnlich wie dem deutschen Volke ist es mich dein Dünenpriuzeu ergangen.
Auch ihn hat mau in der letzten Zeit von dem Vorwurfe des Zauderus und
der Unentschlossenheit angesichts einer ihm unlösbar erscheinenden Aufgabe,
der seit Goethes Tagen auf ihm lastete, zu befreien gesucht. Weil er einige
male, wo ihm das Messer an der Kehle sitzt, wirklich zuschlägt, meinte man,
sein Nichtzuschlagen bei andrer Gelegenheit nicht auf eine angeborne, von ihm
selbst klar erkannte Schwäche seines Charakters als vielmehr auf eine" wohl¬
überlegten Plan zurückführen zu müssen. Nicht darauf habe es ihm ankommen
können, einfach an dein Mörder seines Vaters die Nache zu vollziehen, sondern
er habe diese in einer Weise vollziehen müssen, daß dadurch zugleich die Schuld
des Mörders allen Augen offenbar wurde. Weil für ihn die Tötung des
Königs ohne dessen Überführung von keinem Werte gewesen sei, die Über-
führung aber sich schwer oder gar nicht habe erreichen lasse", so habe er not¬
gedrungen auf jedes Handeln bis zu dein Eintreten einer günstigern Gelegen¬
heit verzichten müssen.

Diese sogenannte Detektivtheorie, die zuerst vou Klein, dem geistvollen
Verfasser der Geschichte des Dramas, aufgestellt, dann in glänzeuder Weise
von Werber weiter entwickelt und noch kürzlich in den Preußischen Jahrbüchern
von einem Juristen, dem sie ja von Haus aus sympathisch sein muß, ver¬
teidigt wordeu ist, hat auf den ersten Anblick etwas ungemein blendendes. Nur
schade, daß sich bei Shakespeare selber kein Wort findet, das auf eine der¬
artige Anschauung seines Helden deutete, ja daß ihr dieser nicht einmal bei
solchen Gelegenheiten Ausdruck giebt, wo die Zuschauer ohne das in voll¬
ständiger Unklarheit über den angeblichen Kernpunkt des Dramas bleiben
müssen. So ist Hamlet uach der Aufführung des Schauspiels, die ihm selber
über die Schuld des Oheims keinen Zweifel mehr läßt, in der Lage, den
König, den er hinterrücks beim Beten überrascht, ohne weiteres niederzustoßen.
Er thut es aber uicht, und zwar, wie die Vertreter jener Theorie meinen,
weil dies nur eine Rache, nicht eine Bestrafung sein, weil die Überführung des
Schuldigen dadurch unmöglich gemacht werden würde. Wenn irgendwo, so
mußte doch an dieser Stelle die Übcrführungstheorie dein Helden auf die
Zunge treten, um das Nichtzuschlagen vor sich selber und den Zuschauern zu
rechtfertigen. Wie heißt es aber statt dessen?


Hamlet und seine Ausleger

die Veränderung zu staunen, die uns der ästhetisirenden Nation Schillers und
Goethes, der philosophirenden Knuts und Hegels ein Volk von in-rttsr ok
ürvt nisu gemacht habe. Tiefer blickende Beobachter sehe» aber, daß seine
Charnltereigeuschafteu im wesentlichen dieselben geblieben sind. Sind doch
selbst die großen Ruhmesthaten der letzten Jahrzehnte, wie es die Vorgeschichte
der drei großen Kriege und die Anfange deutscher Kolonialpolitik deutlich
erweisen, recht eigentlich im Kampfe mit jenen Charaktereigenschaften dank der
unbeugsamen Energie einzelner entschlosseneren Naturen zustande gekommen.

Ähnlich wie dem deutschen Volke ist es mich dein Dünenpriuzeu ergangen.
Auch ihn hat mau in der letzten Zeit von dem Vorwurfe des Zauderus und
der Unentschlossenheit angesichts einer ihm unlösbar erscheinenden Aufgabe,
der seit Goethes Tagen auf ihm lastete, zu befreien gesucht. Weil er einige
male, wo ihm das Messer an der Kehle sitzt, wirklich zuschlägt, meinte man,
sein Nichtzuschlagen bei andrer Gelegenheit nicht auf eine angeborne, von ihm
selbst klar erkannte Schwäche seines Charakters als vielmehr auf eine» wohl¬
überlegten Plan zurückführen zu müssen. Nicht darauf habe es ihm ankommen
können, einfach an dein Mörder seines Vaters die Nache zu vollziehen, sondern
er habe diese in einer Weise vollziehen müssen, daß dadurch zugleich die Schuld
des Mörders allen Augen offenbar wurde. Weil für ihn die Tötung des
Königs ohne dessen Überführung von keinem Werte gewesen sei, die Über-
führung aber sich schwer oder gar nicht habe erreichen lasse», so habe er not¬
gedrungen auf jedes Handeln bis zu dein Eintreten einer günstigern Gelegen¬
heit verzichten müssen.

Diese sogenannte Detektivtheorie, die zuerst vou Klein, dem geistvollen
Verfasser der Geschichte des Dramas, aufgestellt, dann in glänzeuder Weise
von Werber weiter entwickelt und noch kürzlich in den Preußischen Jahrbüchern
von einem Juristen, dem sie ja von Haus aus sympathisch sein muß, ver¬
teidigt wordeu ist, hat auf den ersten Anblick etwas ungemein blendendes. Nur
schade, daß sich bei Shakespeare selber kein Wort findet, das auf eine der¬
artige Anschauung seines Helden deutete, ja daß ihr dieser nicht einmal bei
solchen Gelegenheiten Ausdruck giebt, wo die Zuschauer ohne das in voll¬
ständiger Unklarheit über den angeblichen Kernpunkt des Dramas bleiben
müssen. So ist Hamlet uach der Aufführung des Schauspiels, die ihm selber
über die Schuld des Oheims keinen Zweifel mehr läßt, in der Lage, den
König, den er hinterrücks beim Beten überrascht, ohne weiteres niederzustoßen.
Er thut es aber uicht, und zwar, wie die Vertreter jener Theorie meinen,
weil dies nur eine Rache, nicht eine Bestrafung sein, weil die Überführung des
Schuldigen dadurch unmöglich gemacht werden würde. Wenn irgendwo, so
mußte doch an dieser Stelle die Übcrführungstheorie dein Helden auf die
Zunge treten, um das Nichtzuschlagen vor sich selber und den Zuschauern zu
rechtfertigen. Wie heißt es aber statt dessen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/576>, abgerufen am 24.07.2024.