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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Staat gefährdet, demnach keine wie immer geartete Mehrheit zu fürchten wäre,
so würde die Regierung selbst nach Möglichkeit die Freiheit der Wähler schützen,
und ihr Wunsch, die volle Wahrheit über das Land zu erfahren, um die
richtigen Maßregeln auswählen zu können, würde durch leine Nebenrücksicht
zurückgedrängt werden.

Freilich würden die Staatsmänner die allerletzten sein, eine solche Ver¬
fassung zu empfehlen. Denn der leitende Staatsmann oder der Monarch müßte
dann die volle Verantwortung für die Gesetze wieder allein und persönlich
übernehmen, während er sie jetzt halb oder ganz auf die Volksvertretung ab¬
wälzt, auch wenn die entscheidende Mehrheit mir sein gedankenloses Echo ist.
Unter allen Regenten Europas ist zur Zeit mir ein einziger bekannt, dein man
zutrauen darf, daß er vor einer solchen Last der Verantwortung uicht zurück¬
schrecken würde. Die Verantwortung wäre weniger ungeheuer, wenn die Ver¬
waltung uicht übertrieben zentralisirt und nicht die Gewohnheit eingerissen
wäre, jede Kleinigkeit durch Gesetze zu regeln. Das Übel entspringt bei uns
zum Teil aus der preußischen Gewissenhaftigkeit. Die Beamten können sich
niemals genug thun in der Fürsorge für alles und jedes; damit schaffen
sie eine nicht zu bewältigende Arbeitslast; das macht die Anstellung weiterer
Beamten nötig, und diese sorgen dann wieder für neue Formulare, deren
Ausfüllung über ihre eigne Arbeitskraft hinausgeht. Ähnlich verhalten
sich die Abgeordneten, die zwar nicht die Zahl ihrer Kollegen vermehren
können, dafür aber die Dauer ihrer Sitzungen verlängern. Nachdem einmal
gesetzgebende Körper geschaffen worden find, halten sich diese nun anch
für verpflichtet, neue Gesetze zu schaffen, selbst wenn dafür gar kein Bedürfnis
vorliegt. In England ist man niemals dieser Meinung gewesen. Man hegt
dort die Überzeugung, daß oilstcu-is Wrivus, das Gesetz von gestern immer
besser sei als das von heute, und die Lords und Gentlemen lassen sich jahre¬
lang drücken, ehe sie ein Gesetz fertig machen, das von irgend einer Seite her
gewünscht wird. Dadurch wird dort das Parteiregiment erträglich, denn die
Volksschichten, auf die sich die Opposition stützt, werden wenigstens nicht durch
unangenehme Maßregeln in ihren Lebensgewohnheiten gestört, wenn sich much
die Erfüllung ihrer Wünsche sehr lange hinausschiebt.

Zum audern Teil entspringt die fabrikmäßige Gesetzmacherei einer über¬
triebenen Vorstellung von der Bortrefflichkeit des Rechts- und Polizeistaates,
den Plato sehr schön in einer kurzen Betrachtung charnkterisirt, die Hegel in
seinein Aufsatz "über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts"
(Werke I, 376) auführt. - "Es ist klar, daß zu der königlichen Kunst auch die
Gesetzgebungslnnst gehört. Das Beste aber ist nicht die Geltung der Gesetze,
sondern die Weisheit und königliche Gesinnung des Mannes. Denn das Gesetz
vermag nicht vorzuschreiben, was in jedem einzelnen Falle das Vortrefflichste
und Gerechteste wäre, weil die Ungleichheiten der Meuscheu und der Handlungen,


Grenzboten 11 1891 71

Staat gefährdet, demnach keine wie immer geartete Mehrheit zu fürchten wäre,
so würde die Regierung selbst nach Möglichkeit die Freiheit der Wähler schützen,
und ihr Wunsch, die volle Wahrheit über das Land zu erfahren, um die
richtigen Maßregeln auswählen zu können, würde durch leine Nebenrücksicht
zurückgedrängt werden.

Freilich würden die Staatsmänner die allerletzten sein, eine solche Ver¬
fassung zu empfehlen. Denn der leitende Staatsmann oder der Monarch müßte
dann die volle Verantwortung für die Gesetze wieder allein und persönlich
übernehmen, während er sie jetzt halb oder ganz auf die Volksvertretung ab¬
wälzt, auch wenn die entscheidende Mehrheit mir sein gedankenloses Echo ist.
Unter allen Regenten Europas ist zur Zeit mir ein einziger bekannt, dein man
zutrauen darf, daß er vor einer solchen Last der Verantwortung uicht zurück¬
schrecken würde. Die Verantwortung wäre weniger ungeheuer, wenn die Ver¬
waltung uicht übertrieben zentralisirt und nicht die Gewohnheit eingerissen
wäre, jede Kleinigkeit durch Gesetze zu regeln. Das Übel entspringt bei uns
zum Teil aus der preußischen Gewissenhaftigkeit. Die Beamten können sich
niemals genug thun in der Fürsorge für alles und jedes; damit schaffen
sie eine nicht zu bewältigende Arbeitslast; das macht die Anstellung weiterer
Beamten nötig, und diese sorgen dann wieder für neue Formulare, deren
Ausfüllung über ihre eigne Arbeitskraft hinausgeht. Ähnlich verhalten
sich die Abgeordneten, die zwar nicht die Zahl ihrer Kollegen vermehren
können, dafür aber die Dauer ihrer Sitzungen verlängern. Nachdem einmal
gesetzgebende Körper geschaffen worden find, halten sich diese nun anch
für verpflichtet, neue Gesetze zu schaffen, selbst wenn dafür gar kein Bedürfnis
vorliegt. In England ist man niemals dieser Meinung gewesen. Man hegt
dort die Überzeugung, daß oilstcu-is Wrivus, das Gesetz von gestern immer
besser sei als das von heute, und die Lords und Gentlemen lassen sich jahre¬
lang drücken, ehe sie ein Gesetz fertig machen, das von irgend einer Seite her
gewünscht wird. Dadurch wird dort das Parteiregiment erträglich, denn die
Volksschichten, auf die sich die Opposition stützt, werden wenigstens nicht durch
unangenehme Maßregeln in ihren Lebensgewohnheiten gestört, wenn sich much
die Erfüllung ihrer Wünsche sehr lange hinausschiebt.

Zum audern Teil entspringt die fabrikmäßige Gesetzmacherei einer über¬
triebenen Vorstellung von der Bortrefflichkeit des Rechts- und Polizeistaates,
den Plato sehr schön in einer kurzen Betrachtung charnkterisirt, die Hegel in
seinein Aufsatz „über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts"
(Werke I, 376) auführt. - „Es ist klar, daß zu der königlichen Kunst auch die
Gesetzgebungslnnst gehört. Das Beste aber ist nicht die Geltung der Gesetze,
sondern die Weisheit und königliche Gesinnung des Mannes. Denn das Gesetz
vermag nicht vorzuschreiben, was in jedem einzelnen Falle das Vortrefflichste
und Gerechteste wäre, weil die Ungleichheiten der Meuscheu und der Handlungen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/565>, abgerufen am 24.07.2024.