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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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aller Welt zu beteuern, daß es bloß zur größer" Ehre Gottes geschehe. Die
offene Vertretung von Staudesiuteresscu ist weder unmoralisch noch dein
Vciterlaude schädlich. Beides wird sie nur dann, wenn eine Interessengruppe
darauf ausgeht, mit List oder Gewalt die Unterstützung andrer Gruppen zu
gewinnen, die ganz andre Interessen haben, nud wenn hierdurch die Regierung
über die wahre Meinung des Landes getauscht wird. Daß alle verschiednen
Interessen deutlich ausgesprochen und kräftig geltend gemacht werden, ist
geradezu eine Notwendigkeit für den Staat. Wehe der Negierung, die sich
keine genane Kenntnis von den Bedürfnissen, Noten, Wünschen, Zuständen
aller Stände in allen Landesteilen zu verschaffe!? weiß! Wie soll sie die
richtigen Entschließungen treffen? Ans dem Wege büreankratischer Bericht¬
erstattung, die aus bekannten Gründen im besten Falle einseitig ausfällt, ist
solche Kenntnis nicht zu erlangen. Die Tagespresse würde dein leitenden
Staatsmanne ein ziemlich richtiges Bild bieten, wenn er imstande wäre, täg¬
lich nicht allein die wichtigsten Parteiblätter, sondern auch noch einige hundert
Blätter ans den Provinzen durchzulesen, woran natürlich nicht zu denken ist.
So bleibt nnr die Volksvertretung übrig, mit deren Anhörung sich allerdings
noch Jnkognitoreisen des leitenden Staatsmanns in den Provinzen verbinden
müßten. Reisen der Minister und Monarchen mit feierlichen Empfängen sind
selbstverständlich als Jnfvrmativnsmittel ohne alle Bedeutung. Die Volks¬
vertretung ist demnach so zusammenzusetzen, daß in ihr alle wichtigeren
BevölkernngSschichten aller Provinzen gehörig vertreten sind und deren Zu¬
stände der Regierung genan bekannt werden.

Leider erfüllen die modernen Parlamente diesen Hauptzweck jeder Volks¬
vertretung "ur sehr unvollkommen. Da sie nicht bloß das Material für die
Gesetzgebung zu liefern, sondern selbst die Gesetze zu machen haben, so sieht
sich die Regierung gezwungen, ans eine bestimmte Zusammensetzung der gesetz¬
gebenden Körper hinzuwirken. In parlamentarisch regierten Staaten hängt
sogar die Existenz der Regierung von der "Majorität" ab, die an und für
sich ein unsinniger Begriff ist. Vou Mehrheit nud Minderheit kaun mau
vernünftigerweise nur dort sprechen, wo das ganze Volk in zwei Parteien ge¬
spalten ist. Das konnte vorkommen in den Städterepubliken des Altertums
und des Mittelalters, wo sich nur Altbürger und Neubürger oder reiche
Großkaufleute nud arme Handwerker gegenüberstanden, aber es hat keinen Sinn
in unsern reich entwickelten Großstaaten mit ihren tausendfältigen sich kreuzenden
Interessen. I" Deutschland ist freilich der Versuch gemacht worden, das Volk
nochmals in zwei konfessionelle Hälften zu zerreißen. Wäre das gelungen, so
würde das Reich schließlich in den Bürgerkrieg hineingeraten sein. Außerdem
ist eine Mehrheit denkbar für jeden einzelnen Fall, für jede einzelne Gesetz¬
vorlage. Aber eine Mehrheit und eine Minderheit an sich hat bei der Struktur
der heutigen Völker keine" Sinn. Die Mehrheiten müssen also künstlich kom-


aller Welt zu beteuern, daß es bloß zur größer» Ehre Gottes geschehe. Die
offene Vertretung von Staudesiuteresscu ist weder unmoralisch noch dein
Vciterlaude schädlich. Beides wird sie nur dann, wenn eine Interessengruppe
darauf ausgeht, mit List oder Gewalt die Unterstützung andrer Gruppen zu
gewinnen, die ganz andre Interessen haben, nud wenn hierdurch die Regierung
über die wahre Meinung des Landes getauscht wird. Daß alle verschiednen
Interessen deutlich ausgesprochen und kräftig geltend gemacht werden, ist
geradezu eine Notwendigkeit für den Staat. Wehe der Negierung, die sich
keine genane Kenntnis von den Bedürfnissen, Noten, Wünschen, Zuständen
aller Stände in allen Landesteilen zu verschaffe!? weiß! Wie soll sie die
richtigen Entschließungen treffen? Ans dem Wege büreankratischer Bericht¬
erstattung, die aus bekannten Gründen im besten Falle einseitig ausfällt, ist
solche Kenntnis nicht zu erlangen. Die Tagespresse würde dein leitenden
Staatsmanne ein ziemlich richtiges Bild bieten, wenn er imstande wäre, täg¬
lich nicht allein die wichtigsten Parteiblätter, sondern auch noch einige hundert
Blätter ans den Provinzen durchzulesen, woran natürlich nicht zu denken ist.
So bleibt nnr die Volksvertretung übrig, mit deren Anhörung sich allerdings
noch Jnkognitoreisen des leitenden Staatsmanns in den Provinzen verbinden
müßten. Reisen der Minister und Monarchen mit feierlichen Empfängen sind
selbstverständlich als Jnfvrmativnsmittel ohne alle Bedeutung. Die Volks¬
vertretung ist demnach so zusammenzusetzen, daß in ihr alle wichtigeren
BevölkernngSschichten aller Provinzen gehörig vertreten sind und deren Zu¬
stände der Regierung genan bekannt werden.

Leider erfüllen die modernen Parlamente diesen Hauptzweck jeder Volks¬
vertretung »ur sehr unvollkommen. Da sie nicht bloß das Material für die
Gesetzgebung zu liefern, sondern selbst die Gesetze zu machen haben, so sieht
sich die Regierung gezwungen, ans eine bestimmte Zusammensetzung der gesetz¬
gebenden Körper hinzuwirken. In parlamentarisch regierten Staaten hängt
sogar die Existenz der Regierung von der „Majorität" ab, die an und für
sich ein unsinniger Begriff ist. Vou Mehrheit nud Minderheit kaun mau
vernünftigerweise nur dort sprechen, wo das ganze Volk in zwei Parteien ge¬
spalten ist. Das konnte vorkommen in den Städterepubliken des Altertums
und des Mittelalters, wo sich nur Altbürger und Neubürger oder reiche
Großkaufleute nud arme Handwerker gegenüberstanden, aber es hat keinen Sinn
in unsern reich entwickelten Großstaaten mit ihren tausendfältigen sich kreuzenden
Interessen. I» Deutschland ist freilich der Versuch gemacht worden, das Volk
nochmals in zwei konfessionelle Hälften zu zerreißen. Wäre das gelungen, so
würde das Reich schließlich in den Bürgerkrieg hineingeraten sein. Außerdem
ist eine Mehrheit denkbar für jeden einzelnen Fall, für jede einzelne Gesetz¬
vorlage. Aber eine Mehrheit und eine Minderheit an sich hat bei der Struktur
der heutigen Völker keine» Sinn. Die Mehrheiten müssen also künstlich kom-


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[0563] aller Welt zu beteuern, daß es bloß zur größer» Ehre Gottes geschehe. Die offene Vertretung von Staudesiuteresscu ist weder unmoralisch noch dein Vciterlaude schädlich. Beides wird sie nur dann, wenn eine Interessengruppe darauf ausgeht, mit List oder Gewalt die Unterstützung andrer Gruppen zu gewinnen, die ganz andre Interessen haben, nud wenn hierdurch die Regierung über die wahre Meinung des Landes getauscht wird. Daß alle verschiednen Interessen deutlich ausgesprochen und kräftig geltend gemacht werden, ist geradezu eine Notwendigkeit für den Staat. Wehe der Negierung, die sich keine genane Kenntnis von den Bedürfnissen, Noten, Wünschen, Zuständen aller Stände in allen Landesteilen zu verschaffe!? weiß! Wie soll sie die richtigen Entschließungen treffen? Ans dem Wege büreankratischer Bericht¬ erstattung, die aus bekannten Gründen im besten Falle einseitig ausfällt, ist solche Kenntnis nicht zu erlangen. Die Tagespresse würde dein leitenden Staatsmanne ein ziemlich richtiges Bild bieten, wenn er imstande wäre, täg¬ lich nicht allein die wichtigsten Parteiblätter, sondern auch noch einige hundert Blätter ans den Provinzen durchzulesen, woran natürlich nicht zu denken ist. So bleibt nnr die Volksvertretung übrig, mit deren Anhörung sich allerdings noch Jnkognitoreisen des leitenden Staatsmanns in den Provinzen verbinden müßten. Reisen der Minister und Monarchen mit feierlichen Empfängen sind selbstverständlich als Jnfvrmativnsmittel ohne alle Bedeutung. Die Volks¬ vertretung ist demnach so zusammenzusetzen, daß in ihr alle wichtigeren BevölkernngSschichten aller Provinzen gehörig vertreten sind und deren Zu¬ stände der Regierung genan bekannt werden. Leider erfüllen die modernen Parlamente diesen Hauptzweck jeder Volks¬ vertretung »ur sehr unvollkommen. Da sie nicht bloß das Material für die Gesetzgebung zu liefern, sondern selbst die Gesetze zu machen haben, so sieht sich die Regierung gezwungen, ans eine bestimmte Zusammensetzung der gesetz¬ gebenden Körper hinzuwirken. In parlamentarisch regierten Staaten hängt sogar die Existenz der Regierung von der „Majorität" ab, die an und für sich ein unsinniger Begriff ist. Vou Mehrheit nud Minderheit kaun mau vernünftigerweise nur dort sprechen, wo das ganze Volk in zwei Parteien ge¬ spalten ist. Das konnte vorkommen in den Städterepubliken des Altertums und des Mittelalters, wo sich nur Altbürger und Neubürger oder reiche Großkaufleute nud arme Handwerker gegenüberstanden, aber es hat keinen Sinn in unsern reich entwickelten Großstaaten mit ihren tausendfältigen sich kreuzenden Interessen. I» Deutschland ist freilich der Versuch gemacht worden, das Volk nochmals in zwei konfessionelle Hälften zu zerreißen. Wäre das gelungen, so würde das Reich schließlich in den Bürgerkrieg hineingeraten sein. Außerdem ist eine Mehrheit denkbar für jeden einzelnen Fall, für jede einzelne Gesetz¬ vorlage. Aber eine Mehrheit und eine Minderheit an sich hat bei der Struktur der heutigen Völker keine» Sinn. Die Mehrheiten müssen also künstlich kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/563>, abgerufen am 24.07.2024.