Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Geschichtsphilosophische Gedanken liebste Gleichförmigkeit fordert, mit dem Wohle des Vaterlandes verwechselt. Also die Vertretung des "ganzen Volkes" ist für gewöhnlich ein Ding Geschichtsphilosophische Gedanken liebste Gleichförmigkeit fordert, mit dem Wohle des Vaterlandes verwechselt. Also die Vertretung des „ganzen Volkes" ist für gewöhnlich ein Ding <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0561" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210428"/> <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/> <p xml:id="ID_1550" prev="#ID_1549"> liebste Gleichförmigkeit fordert, mit dem Wohle des Vaterlandes verwechselt.<lb/> Aus dem Beamtenstailde ist dann die Vorstellung in weitere Kreise eingedrungen,<lb/> daß durch provinzielle Verschiedenheiten in der Verwaltung die Festigkeit des<lb/> Staates erschüttert werde. Wir kennen aber kein geschichtliches Beispiel,<lb/> worauf sich diese Vorstellung stützen könnte. Das altere deutsche Reich ist<lb/> uicht ein seinen landschaftlichen Verschiedenheiten, auch nicht einmal an der<lb/> Feindschaft der Konfessionen zu Grunde gegangen, sondern an der Selbstsucht<lb/> seiner Fürsten, und wenn irgend eine Ureigenschaft des deutschen Volkes dafür<lb/> verantwortlich gemacht werden soll, so war es nicht seine Neigung zum<lb/> Individualismus, sondern die vielberufene Mannentreue, die Anhänglichkeit an<lb/> die Augestammtcn. Ist eine Nation die Vielheit der Angestammten glücklich<lb/> losgeworden und unter einem einzigen Regentenhause geeinigt, dann werden die<lb/> Anhänglichkeit an dieses und die Liebe zum allgemeinen Vaterlande nicht durch<lb/> die büreaukratische Zwangsjacke gesichert, sondern durch ein möglichst hohes<lb/> Mas; von Wohlbefinden, zu dem vor allem gehört, daß man in Kirchen-,<lb/> Schul- und Verwaltnngssachen jeden nach seiner Fac^on selig werden läßt.<lb/> Die Spanier wurden durch die sehr bedeutenden Unterschiede in ihren Provin¬<lb/> ziellen Eigentümlichkeiten nicht im mindesten gehindert, sich 1809 wie ein<lb/> Mann gegen die Franzosen zu erheben; und wenn die Tiroler in demselben<lb/> Jahre ihre Haut für das Haus Habsburg zu Markte trugen, so geschah es,<lb/> weil sie unter dessen Schirm nach väterlicher Sitte hatten leben dürfen. In<lb/> Preußen bewährten sich nach dem Unglück von 1806 gerade die uuifvrmirtesten<lb/> Elemente am allerschlechteften; ihre Haltung wird durch das berüchtigte Wort<lb/> des Gouverneurs von Berlin, des Grafen Schulenburg: „Ruhe ist die erste<lb/> Bürgerpflicht" charakterisirt. Die Anhänglichkeit aber, die das Volk seinem<lb/> Könige einstweilen im Stillen bewahrte, bis ihm 1813 die große Erhebung<lb/> für König und Vaterland gestattet wurde, war uicht am wenigsten der Weis¬<lb/> heit des großen Friedrich zu verdauten, der im Gegensatz zu den büreau-<lb/> kratischen Vorurteilen seiner Zeit die verschiednen Landesteile seiner Monarchie<lb/> bei ihrer Kirchen- und Schulverfassung und, soweit es möglich war, auch bei<lb/> ihrer hergebrachten Verwaltung gelassen hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1551" next="#ID_1552"> Also die Vertretung des „ganzen Volkes" ist für gewöhnlich ein Ding<lb/> der Unmöglichkeit. Aber die Ansicht, daß es eine Partei schlechterdings<lb/> — dem Scheine nach — auf nichts andres absehen dürfe, als auf das Wohl<lb/> des Staates und Vaterlandes, hat sich der Gemüter dermaßen bemächtigt, daß<lb/> sich die Parteien ihrer eignen Existenz schämen. Deshalb sucht jede Partei<lb/> sich und andern einzureden, sie sei eigentlich gar keine Partei, sondern das<lb/> Volk selbst, und die andern Parteien seien nur kleine Verführerbanden, denen<lb/> es bei den Wahlen durch eine Art von Bezauberung gelinge, eine Anzahl von<lb/> Bürgern in ihre Netze zu locken. Mag daher Freihandel oder Schutzzoll,<lb/> Gewerbefreiheit oder Zwangsinnung, in der Schule die obligatorische Orthv-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0561]
Geschichtsphilosophische Gedanken
liebste Gleichförmigkeit fordert, mit dem Wohle des Vaterlandes verwechselt.
Aus dem Beamtenstailde ist dann die Vorstellung in weitere Kreise eingedrungen,
daß durch provinzielle Verschiedenheiten in der Verwaltung die Festigkeit des
Staates erschüttert werde. Wir kennen aber kein geschichtliches Beispiel,
worauf sich diese Vorstellung stützen könnte. Das altere deutsche Reich ist
uicht ein seinen landschaftlichen Verschiedenheiten, auch nicht einmal an der
Feindschaft der Konfessionen zu Grunde gegangen, sondern an der Selbstsucht
seiner Fürsten, und wenn irgend eine Ureigenschaft des deutschen Volkes dafür
verantwortlich gemacht werden soll, so war es nicht seine Neigung zum
Individualismus, sondern die vielberufene Mannentreue, die Anhänglichkeit an
die Augestammtcn. Ist eine Nation die Vielheit der Angestammten glücklich
losgeworden und unter einem einzigen Regentenhause geeinigt, dann werden die
Anhänglichkeit an dieses und die Liebe zum allgemeinen Vaterlande nicht durch
die büreaukratische Zwangsjacke gesichert, sondern durch ein möglichst hohes
Mas; von Wohlbefinden, zu dem vor allem gehört, daß man in Kirchen-,
Schul- und Verwaltnngssachen jeden nach seiner Fac^on selig werden läßt.
Die Spanier wurden durch die sehr bedeutenden Unterschiede in ihren Provin¬
ziellen Eigentümlichkeiten nicht im mindesten gehindert, sich 1809 wie ein
Mann gegen die Franzosen zu erheben; und wenn die Tiroler in demselben
Jahre ihre Haut für das Haus Habsburg zu Markte trugen, so geschah es,
weil sie unter dessen Schirm nach väterlicher Sitte hatten leben dürfen. In
Preußen bewährten sich nach dem Unglück von 1806 gerade die uuifvrmirtesten
Elemente am allerschlechteften; ihre Haltung wird durch das berüchtigte Wort
des Gouverneurs von Berlin, des Grafen Schulenburg: „Ruhe ist die erste
Bürgerpflicht" charakterisirt. Die Anhänglichkeit aber, die das Volk seinem
Könige einstweilen im Stillen bewahrte, bis ihm 1813 die große Erhebung
für König und Vaterland gestattet wurde, war uicht am wenigsten der Weis¬
heit des großen Friedrich zu verdauten, der im Gegensatz zu den büreau-
kratischen Vorurteilen seiner Zeit die verschiednen Landesteile seiner Monarchie
bei ihrer Kirchen- und Schulverfassung und, soweit es möglich war, auch bei
ihrer hergebrachten Verwaltung gelassen hatte.
Also die Vertretung des „ganzen Volkes" ist für gewöhnlich ein Ding
der Unmöglichkeit. Aber die Ansicht, daß es eine Partei schlechterdings
— dem Scheine nach — auf nichts andres absehen dürfe, als auf das Wohl
des Staates und Vaterlandes, hat sich der Gemüter dermaßen bemächtigt, daß
sich die Parteien ihrer eignen Existenz schämen. Deshalb sucht jede Partei
sich und andern einzureden, sie sei eigentlich gar keine Partei, sondern das
Volk selbst, und die andern Parteien seien nur kleine Verführerbanden, denen
es bei den Wahlen durch eine Art von Bezauberung gelinge, eine Anzahl von
Bürgern in ihre Netze zu locken. Mag daher Freihandel oder Schutzzoll,
Gewerbefreiheit oder Zwangsinnung, in der Schule die obligatorische Orthv-
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