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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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im Jahre 1870 ausgesprochen hat, ehe noch das deutsche Reich vorhanden
war, dazu in'eden doch nur große weltgeschichtliche Erschütterungen deu Anlaß.
Und auch für solche Fälle möchte sichs empfehlen, daß von den Abgeordnete",
die diesen Willen durch Bewilligung der Kriegskosten aussprechen, jeder uicht
im Namen der "Nation" spräche, die zu befragen ihm gar nicht möglich ist,
sondern im Namen seines Wahlkreises, dessen Bewohner er ganz gut befragen
kann. Kennt die Regierung die Stimmung jedes einzelnen Wahlkreises, so
keunt sie die Stimmung des ganzen Volkes; hat aber die "Nation" im ganzen
gesprochen durch ein paar Herren, von deren keinem man weiß, ob er anch
nnr seinen Wahlkreis hinter sich hat, so ist das so gut, als hätte niemand
gesprochen, und die Regierung schwebt mit ihren Entschließungen in der Luft.
Fast in allen andern Fällen ist das Wort Volkswille eine lächerliche Redens¬
art, weil die eine Hälfte des Volkes gewöhnlich das gerade Gegenteil von dem
will, was die andre will. Beide Hälften sehen nun wohl ein, daß jede der
andern etwas nachgeben müsse, aber wenn man eine solche notgedrungene
Verzichtleistung ans den eignen Willen als den Ausdruck des Volkswilleus
bezeichnen wollte, so wäre das doch ein starker Euphemismus.

Vielleicht wirft jemand ein, daß es ja weniger der Volkswille als das
Volkswohl sei, das der Abgeordnete zu vertreten habe. Aber wo steht denn
geschrieben, daß dem Abgeordneten mit seinem Mandate die Offenbarung des
wirklichen und wahrhaftigen Volkswohls zu teil werde, über dessen Natur
und Inhalt von deu Parteien beständig gestritten wird? Wenn die Zucker¬
fabrikanten und die Nübcnbauern eiues Kreises zur Erleichterung ihres gegen¬
seitigen Verkehrs eine Eisenbahn wünschen, so dürfte es schwer zu beweisen
sein, daß hinter der Nichtbefriedigung dieses Wunsches eine Gefahr für Volk
und Vaterland, für Staat und Reich lauere. Soll deswegen der Abgeordnete
dieses Kreises seinen Beistand versagen? Freilich ist es nnr ein kleiner Bruch¬
teil des Volkes, dem mit der neuen Bahn eine Wohlthat erwiesen wird, aber
wenn dieser kleine Teil sich ein wenig wohler fühlt, so liegt darin doch auch
eine mittelbare Förderung des Gemeinwohls. Umgekehrt erfährt durch Gesetze
fürs Ganze, über die jeder Einzelne klagt, dieses Ganze nur eine zweifelhafte
Förderung. Man nennt solche Gesetze wahrscheinlich deswegen gern organische,
weil sie nicht aus den Bedürfnissen und Zuständen herausgewachsen, sondern
künstlich zugeschnitten und den widerstrebenden Volksmassen aufgezwungen
worden, also das gerade Gegenteil von organisch sind. Was kann es Selbst¬
verständlicheres geben, als daß ein und dieselbe Gemeindeordnung nicht gleich¬
zeitig für eine schlesische Großbauerngemeinde, eine ostpreußische Kossüten-
gemeinde und eine rheinische Kleinbanerngemeiude paßt? Und mit der Volks¬
schule der verschiednen Provinzen verhält sichs ähnlich. Der Eifer für solche
"organische" Gesetze entstammt zunächst dem Umstände, daß die Büreaukratie
sich selbst mit dem Staate und ihre eigne Bequemlichkeit, die ja doch mög-


im Jahre 1870 ausgesprochen hat, ehe noch das deutsche Reich vorhanden
war, dazu in'eden doch nur große weltgeschichtliche Erschütterungen deu Anlaß.
Und auch für solche Fälle möchte sichs empfehlen, daß von den Abgeordnete»,
die diesen Willen durch Bewilligung der Kriegskosten aussprechen, jeder uicht
im Namen der „Nation" spräche, die zu befragen ihm gar nicht möglich ist,
sondern im Namen seines Wahlkreises, dessen Bewohner er ganz gut befragen
kann. Kennt die Regierung die Stimmung jedes einzelnen Wahlkreises, so
keunt sie die Stimmung des ganzen Volkes; hat aber die „Nation" im ganzen
gesprochen durch ein paar Herren, von deren keinem man weiß, ob er anch
nnr seinen Wahlkreis hinter sich hat, so ist das so gut, als hätte niemand
gesprochen, und die Regierung schwebt mit ihren Entschließungen in der Luft.
Fast in allen andern Fällen ist das Wort Volkswille eine lächerliche Redens¬
art, weil die eine Hälfte des Volkes gewöhnlich das gerade Gegenteil von dem
will, was die andre will. Beide Hälften sehen nun wohl ein, daß jede der
andern etwas nachgeben müsse, aber wenn man eine solche notgedrungene
Verzichtleistung ans den eignen Willen als den Ausdruck des Volkswilleus
bezeichnen wollte, so wäre das doch ein starker Euphemismus.

Vielleicht wirft jemand ein, daß es ja weniger der Volkswille als das
Volkswohl sei, das der Abgeordnete zu vertreten habe. Aber wo steht denn
geschrieben, daß dem Abgeordneten mit seinem Mandate die Offenbarung des
wirklichen und wahrhaftigen Volkswohls zu teil werde, über dessen Natur
und Inhalt von deu Parteien beständig gestritten wird? Wenn die Zucker¬
fabrikanten und die Nübcnbauern eiues Kreises zur Erleichterung ihres gegen¬
seitigen Verkehrs eine Eisenbahn wünschen, so dürfte es schwer zu beweisen
sein, daß hinter der Nichtbefriedigung dieses Wunsches eine Gefahr für Volk
und Vaterland, für Staat und Reich lauere. Soll deswegen der Abgeordnete
dieses Kreises seinen Beistand versagen? Freilich ist es nnr ein kleiner Bruch¬
teil des Volkes, dem mit der neuen Bahn eine Wohlthat erwiesen wird, aber
wenn dieser kleine Teil sich ein wenig wohler fühlt, so liegt darin doch auch
eine mittelbare Förderung des Gemeinwohls. Umgekehrt erfährt durch Gesetze
fürs Ganze, über die jeder Einzelne klagt, dieses Ganze nur eine zweifelhafte
Förderung. Man nennt solche Gesetze wahrscheinlich deswegen gern organische,
weil sie nicht aus den Bedürfnissen und Zuständen herausgewachsen, sondern
künstlich zugeschnitten und den widerstrebenden Volksmassen aufgezwungen
worden, also das gerade Gegenteil von organisch sind. Was kann es Selbst¬
verständlicheres geben, als daß ein und dieselbe Gemeindeordnung nicht gleich¬
zeitig für eine schlesische Großbauerngemeinde, eine ostpreußische Kossüten-
gemeinde und eine rheinische Kleinbanerngemeiude paßt? Und mit der Volks¬
schule der verschiednen Provinzen verhält sichs ähnlich. Der Eifer für solche
„organische" Gesetze entstammt zunächst dem Umstände, daß die Büreaukratie
sich selbst mit dem Staate und ihre eigne Bequemlichkeit, die ja doch mög-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/560>, abgerufen am 24.07.2024.