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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur politischen Lage

Ernst ist. Es ist kaum glaublich, wie stark der Einfluß ist, den der geistliche
Vater in dieser Politik, der Oberprokuratvr Pvbedonoszcw ausübt, ja
man kann sagen, daß er zur Stunde der einzige ist, der einen direkten Einfluß
ausübt. Unzweifelhaft will dieser Mann den Frieden, auch kann man ihn
nicht eigentlich einen Deutschenfeind nennen. Was er haßt, wie nur ein
Fanatiker hassen kann, ist der Westen mit seiner europäischen Kultur, mit
seineu liberalen Staatsformen, mit seiner Mannichfaltigkeit des Lebens. Mit
vollem Bewußtsein stellt man Rußland und Europa als Gegensätze einander
gegenüber, und wenn es irgend denkbar wäre, eine geistige Sperre zu errichten,
wie sie die alten Zaren aufrecht erhielte", Pobedonoszew würde nicht zögern,
zu diesem Mittel zu greifen. Da das nicht geht, vollzieht man in mehr oder
minder brutaler Form jene Verdrängung abendländischer Elemente, von der uns
jeder Tag neue Kunde bringt. Nun muß man freilich nicht glauben, daß
Pobedonoszew in Nußland beliebt sei. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe
gleich gesinnter Fanatiker haßt ihn alles, vor allem die durch ihn aus ihrer
Einflußstelluug verdrängte russische Aristokratie, die dem Parvenu nicht ver¬
zeihen kann, daß er ausschließlich das Ohr des Zaren besitzt. Es haßt ihn
das gesamte russische Beamtentum, das gewohnt ist, mit liberalen Ideen zu
spielen, und in dem Vertreter derselben bis hart an die Grenze des Nihilismus
zu gehen sich erlaubt. Es haßt ihn das Volk, das ihn verantwortlich macht
für den schweren wirtschaftlichen Druck, der fein System begleitet. Aber was
will das sagen gegenüber der Stellung, die er beim Zaren einnimmt, der völlig
unfähig ist, sich dem geistlichen Banne zu entziehen, wodurch er ihn gefangen
hält? Die stete Lebensgefahr, in der der Zar schwebt, und vor der ihn nur
ein auf die äußerste Spitze getriebenes System der Wachsamkeit schützt, giebt
eine natürliche Grundlage für geistliche Einflüsse.

Herr von Giers als Zweiter ist heute alt und abgängig. Er weilt im
Augenblick auf Urlaub in Finnland, und wenn er wöchentlich einmal nach
Petersburg kommt, so geschieht auch das mehr, um einer Form zu genügen.
Zu einer wirklichen Leitung der Politik macht ihn sein hohes Alter und seine
Kränklichkeit unfähig. Es wird wohl eine Frage der nächsten Zukunft sein,
wer sein Nachfolger werden wird, und wenn es auch für ausgeschlossen gelten
kann, daß Jgnatjew wieder in den Vordergrund rückt, so ist doch zu erwarten,
daß es ein Mann seiner Richtung sein werde. Besitzt er Ehrgeiz und Kraft,
so steht ein Kampf zwischen ihm und Pobedonoszew bevor. Den Herren vom
Kriegsministerium ist kein Einfluß zuzuschreiben, der Finanzminister Wyschne-
gradski dagegen, der durch seine Konvertirungen dem russischen Reiche dreißig
bis fünfunddreißig Millionen Franks Zinsen erspart hat, ist beim Zaren xsr-
song. Srg.dis8iirm und schließt sich dessen Friedensneigungen heute noch unbe¬
dingt an. In Rußland selbst hat Wyschnegradski weit weniger Bewunderer
als außerhalb; dort kennt man die Schäden seines Systems und fühlt es am


Grenzboten II 1891 68
Zur politischen Lage

Ernst ist. Es ist kaum glaublich, wie stark der Einfluß ist, den der geistliche
Vater in dieser Politik, der Oberprokuratvr Pvbedonoszcw ausübt, ja
man kann sagen, daß er zur Stunde der einzige ist, der einen direkten Einfluß
ausübt. Unzweifelhaft will dieser Mann den Frieden, auch kann man ihn
nicht eigentlich einen Deutschenfeind nennen. Was er haßt, wie nur ein
Fanatiker hassen kann, ist der Westen mit seiner europäischen Kultur, mit
seineu liberalen Staatsformen, mit seiner Mannichfaltigkeit des Lebens. Mit
vollem Bewußtsein stellt man Rußland und Europa als Gegensätze einander
gegenüber, und wenn es irgend denkbar wäre, eine geistige Sperre zu errichten,
wie sie die alten Zaren aufrecht erhielte», Pobedonoszew würde nicht zögern,
zu diesem Mittel zu greifen. Da das nicht geht, vollzieht man in mehr oder
minder brutaler Form jene Verdrängung abendländischer Elemente, von der uns
jeder Tag neue Kunde bringt. Nun muß man freilich nicht glauben, daß
Pobedonoszew in Nußland beliebt sei. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe
gleich gesinnter Fanatiker haßt ihn alles, vor allem die durch ihn aus ihrer
Einflußstelluug verdrängte russische Aristokratie, die dem Parvenu nicht ver¬
zeihen kann, daß er ausschließlich das Ohr des Zaren besitzt. Es haßt ihn
das gesamte russische Beamtentum, das gewohnt ist, mit liberalen Ideen zu
spielen, und in dem Vertreter derselben bis hart an die Grenze des Nihilismus
zu gehen sich erlaubt. Es haßt ihn das Volk, das ihn verantwortlich macht
für den schweren wirtschaftlichen Druck, der fein System begleitet. Aber was
will das sagen gegenüber der Stellung, die er beim Zaren einnimmt, der völlig
unfähig ist, sich dem geistlichen Banne zu entziehen, wodurch er ihn gefangen
hält? Die stete Lebensgefahr, in der der Zar schwebt, und vor der ihn nur
ein auf die äußerste Spitze getriebenes System der Wachsamkeit schützt, giebt
eine natürliche Grundlage für geistliche Einflüsse.

Herr von Giers als Zweiter ist heute alt und abgängig. Er weilt im
Augenblick auf Urlaub in Finnland, und wenn er wöchentlich einmal nach
Petersburg kommt, so geschieht auch das mehr, um einer Form zu genügen.
Zu einer wirklichen Leitung der Politik macht ihn sein hohes Alter und seine
Kränklichkeit unfähig. Es wird wohl eine Frage der nächsten Zukunft sein,
wer sein Nachfolger werden wird, und wenn es auch für ausgeschlossen gelten
kann, daß Jgnatjew wieder in den Vordergrund rückt, so ist doch zu erwarten,
daß es ein Mann seiner Richtung sein werde. Besitzt er Ehrgeiz und Kraft,
so steht ein Kampf zwischen ihm und Pobedonoszew bevor. Den Herren vom
Kriegsministerium ist kein Einfluß zuzuschreiben, der Finanzminister Wyschne-
gradski dagegen, der durch seine Konvertirungen dem russischen Reiche dreißig
bis fünfunddreißig Millionen Franks Zinsen erspart hat, ist beim Zaren xsr-
song. Srg.dis8iirm und schließt sich dessen Friedensneigungen heute noch unbe¬
dingt an. In Rußland selbst hat Wyschnegradski weit weniger Bewunderer
als außerhalb; dort kennt man die Schäden seines Systems und fühlt es am


Grenzboten II 1891 68
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[0541] Zur politischen Lage Ernst ist. Es ist kaum glaublich, wie stark der Einfluß ist, den der geistliche Vater in dieser Politik, der Oberprokuratvr Pvbedonoszcw ausübt, ja man kann sagen, daß er zur Stunde der einzige ist, der einen direkten Einfluß ausübt. Unzweifelhaft will dieser Mann den Frieden, auch kann man ihn nicht eigentlich einen Deutschenfeind nennen. Was er haßt, wie nur ein Fanatiker hassen kann, ist der Westen mit seiner europäischen Kultur, mit seineu liberalen Staatsformen, mit seiner Mannichfaltigkeit des Lebens. Mit vollem Bewußtsein stellt man Rußland und Europa als Gegensätze einander gegenüber, und wenn es irgend denkbar wäre, eine geistige Sperre zu errichten, wie sie die alten Zaren aufrecht erhielte», Pobedonoszew würde nicht zögern, zu diesem Mittel zu greifen. Da das nicht geht, vollzieht man in mehr oder minder brutaler Form jene Verdrängung abendländischer Elemente, von der uns jeder Tag neue Kunde bringt. Nun muß man freilich nicht glauben, daß Pobedonoszew in Nußland beliebt sei. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe gleich gesinnter Fanatiker haßt ihn alles, vor allem die durch ihn aus ihrer Einflußstelluug verdrängte russische Aristokratie, die dem Parvenu nicht ver¬ zeihen kann, daß er ausschließlich das Ohr des Zaren besitzt. Es haßt ihn das gesamte russische Beamtentum, das gewohnt ist, mit liberalen Ideen zu spielen, und in dem Vertreter derselben bis hart an die Grenze des Nihilismus zu gehen sich erlaubt. Es haßt ihn das Volk, das ihn verantwortlich macht für den schweren wirtschaftlichen Druck, der fein System begleitet. Aber was will das sagen gegenüber der Stellung, die er beim Zaren einnimmt, der völlig unfähig ist, sich dem geistlichen Banne zu entziehen, wodurch er ihn gefangen hält? Die stete Lebensgefahr, in der der Zar schwebt, und vor der ihn nur ein auf die äußerste Spitze getriebenes System der Wachsamkeit schützt, giebt eine natürliche Grundlage für geistliche Einflüsse. Herr von Giers als Zweiter ist heute alt und abgängig. Er weilt im Augenblick auf Urlaub in Finnland, und wenn er wöchentlich einmal nach Petersburg kommt, so geschieht auch das mehr, um einer Form zu genügen. Zu einer wirklichen Leitung der Politik macht ihn sein hohes Alter und seine Kränklichkeit unfähig. Es wird wohl eine Frage der nächsten Zukunft sein, wer sein Nachfolger werden wird, und wenn es auch für ausgeschlossen gelten kann, daß Jgnatjew wieder in den Vordergrund rückt, so ist doch zu erwarten, daß es ein Mann seiner Richtung sein werde. Besitzt er Ehrgeiz und Kraft, so steht ein Kampf zwischen ihm und Pobedonoszew bevor. Den Herren vom Kriegsministerium ist kein Einfluß zuzuschreiben, der Finanzminister Wyschne- gradski dagegen, der durch seine Konvertirungen dem russischen Reiche dreißig bis fünfunddreißig Millionen Franks Zinsen erspart hat, ist beim Zaren xsr- song. Srg.dis8iirm und schließt sich dessen Friedensneigungen heute noch unbe¬ dingt an. In Rußland selbst hat Wyschnegradski weit weniger Bewunderer als außerhalb; dort kennt man die Schäden seines Systems und fühlt es am Grenzboten II 1891 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/541>, abgerufen am 24.07.2024.