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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur politischen Lage

im Frieden. Erzwingt Nußland seinen Schiffen den freien Durchzug dnrch
die Dardanellen, Friedenszeichen: denn damit hört das Schwarze Meer auf,
eine mars o1an8nur zu sein; besteht die Türkei darauf, daß nur wirkliche
Kauffnhrer durch die Dardanellen fahren, Friedenszeichen: denn damit ist jede
Gefahr beseitigt -- und so fort mit Grazie in inlinituni. Daß das kein
Scherz, sondern nur die etwas scharfe Deutung unsrer Friedensreden ist, wird
jeder zugeben, der diese Gattung der modernsten Beredsamkeit eingehender studirt
hat. Handelsvertrag, Getreidezölle, Sozialdemokratie, Ordensverleihungen,
Militärvorlage und Fincmzreformeu -- alle lassen die gleiche Deutung zu.

Wenn trotz nlledem heute kein Gefühl ruhiger Friedenszuversicht Platz
greifen will, so liegt es an der Thatsache, daß Europa in zwei Lager geteilt,
wie zum Schlagen bereit dasteht, und daß trotz aller Friedensverheißnngen
noch in keinem der beteiligten Staaten eine Legislaturperiode ohne weitere
militärische Forderungen vorübergegangen ist. Das russisch-französische Ein¬
verständnis, dessen explosive Natur allgemein anerkannt ist, zwingt dem
bedrohten Mitteleuropa die Gegenmaßregeln auf, und es ist durchaus uicht
abzusehen, wie und wann eine Wandlung eintreten könnte.

Wenn wir nun dennoch vorläufig auf weitere Dauer des Friedens
rechnen, so liegt es daran, daß die Entscheidung bei Rußland, nicht bei
Frankreich ruht. Es tritt immer mehr zu Tage, daß der Zar den Krieg
nicht wollen darf; so stark auch das Drängen einer Aktionspartei ist, die in
den Kreisen des Pauslawismns und in der Armee ihren Mittelpunkt findet,
so sehr widerspricht der Einfluß der zur Stunde geltenden Menge dieser
Richtung. Der Zur zunächst ist kein Soldat; er erinnert in seinem Wesen
einigermaßen an die alten Großfürsten von Moskau, die sich im Kreml ver¬
gruben und sich nur bei außerordentlichen Gelegenheiten dem Volke zeigten
oder ein Pferd bestiegen. Ganz ausgeschlossen ist es, daß Zar Alexander III.
je persönlich in die Leitung eines Krieges eingreifen könnte. Von der frischen
Beweglichkeit der Herzöge von Holstein-Gottorp scheint keine Spur in ihm
übrig geblieben zu sein. Alexander III. kann nur schwer ein Pferd besteigen
und nicht anders als im Schritt reiten. Solche kleine Äußerlichkeiten können
aber unter Umständen von entscheidender Wichtigkeit werden. Es kommt hinzu,
daß die von dem Oberproturatvr des Syuod ausströmende geistliche Tendenz
alle übrigen Einflüsse bei weitem überwiegt, und daß sich demgemäß das
Programm des Zaren, das ursprünglich auf eine nationale Assimilirung aller
Völkerschaften des Reiches zielte, erweitert hat zum Programm einer religiösen
Einigung des Ganzen unter dein griechisch-russischen Doppelkreuz. Die reli¬
giösen Bekehrungen innerhalb des nächsten Familienkreises des Zaren ver¬
dienen von diesem Gesichtspunkte ans besondre Betonung, und das gewalt¬
same Vordringen der russischen Kirche in den Ostseeprovinzen, in Litauen
und in Polen zeigt, daß es mit der Durchführung dieses Gedankens bitterer


Zur politischen Lage

im Frieden. Erzwingt Nußland seinen Schiffen den freien Durchzug dnrch
die Dardanellen, Friedenszeichen: denn damit hört das Schwarze Meer auf,
eine mars o1an8nur zu sein; besteht die Türkei darauf, daß nur wirkliche
Kauffnhrer durch die Dardanellen fahren, Friedenszeichen: denn damit ist jede
Gefahr beseitigt — und so fort mit Grazie in inlinituni. Daß das kein
Scherz, sondern nur die etwas scharfe Deutung unsrer Friedensreden ist, wird
jeder zugeben, der diese Gattung der modernsten Beredsamkeit eingehender studirt
hat. Handelsvertrag, Getreidezölle, Sozialdemokratie, Ordensverleihungen,
Militärvorlage und Fincmzreformeu — alle lassen die gleiche Deutung zu.

Wenn trotz nlledem heute kein Gefühl ruhiger Friedenszuversicht Platz
greifen will, so liegt es an der Thatsache, daß Europa in zwei Lager geteilt,
wie zum Schlagen bereit dasteht, und daß trotz aller Friedensverheißnngen
noch in keinem der beteiligten Staaten eine Legislaturperiode ohne weitere
militärische Forderungen vorübergegangen ist. Das russisch-französische Ein¬
verständnis, dessen explosive Natur allgemein anerkannt ist, zwingt dem
bedrohten Mitteleuropa die Gegenmaßregeln auf, und es ist durchaus uicht
abzusehen, wie und wann eine Wandlung eintreten könnte.

Wenn wir nun dennoch vorläufig auf weitere Dauer des Friedens
rechnen, so liegt es daran, daß die Entscheidung bei Rußland, nicht bei
Frankreich ruht. Es tritt immer mehr zu Tage, daß der Zar den Krieg
nicht wollen darf; so stark auch das Drängen einer Aktionspartei ist, die in
den Kreisen des Pauslawismns und in der Armee ihren Mittelpunkt findet,
so sehr widerspricht der Einfluß der zur Stunde geltenden Menge dieser
Richtung. Der Zur zunächst ist kein Soldat; er erinnert in seinem Wesen
einigermaßen an die alten Großfürsten von Moskau, die sich im Kreml ver¬
gruben und sich nur bei außerordentlichen Gelegenheiten dem Volke zeigten
oder ein Pferd bestiegen. Ganz ausgeschlossen ist es, daß Zar Alexander III.
je persönlich in die Leitung eines Krieges eingreifen könnte. Von der frischen
Beweglichkeit der Herzöge von Holstein-Gottorp scheint keine Spur in ihm
übrig geblieben zu sein. Alexander III. kann nur schwer ein Pferd besteigen
und nicht anders als im Schritt reiten. Solche kleine Äußerlichkeiten können
aber unter Umständen von entscheidender Wichtigkeit werden. Es kommt hinzu,
daß die von dem Oberproturatvr des Syuod ausströmende geistliche Tendenz
alle übrigen Einflüsse bei weitem überwiegt, und daß sich demgemäß das
Programm des Zaren, das ursprünglich auf eine nationale Assimilirung aller
Völkerschaften des Reiches zielte, erweitert hat zum Programm einer religiösen
Einigung des Ganzen unter dein griechisch-russischen Doppelkreuz. Die reli¬
giösen Bekehrungen innerhalb des nächsten Familienkreises des Zaren ver¬
dienen von diesem Gesichtspunkte ans besondre Betonung, und das gewalt¬
same Vordringen der russischen Kirche in den Ostseeprovinzen, in Litauen
und in Polen zeigt, daß es mit der Durchführung dieses Gedankens bitterer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/540>, abgerufen am 24.07.2024.