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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte

Verständnis erfordert eine sehr ausgebreitete Lektüre in den mannichfaltigsten
Gebieten des modernen Geisteslebens, die Philologie dagegen ist eine Wissen¬
schaft, die ohne starke Vertiefung in das einzelste uicht gedeihen kann. Die
neuere Geschichte erfordert umfassende Sprachkenntnisse; der klassische Philolog
wird schwerlich in der Lage sein, auch noch Französisch, Englisch, Italienisch
und Spanisch zu betreiben. Die neuere Geschichte kann ohne das ansgebreitetste
Studium der Litteraturen und der Philosophie der großen Kulturvölker über¬
haupt nicht verstanden, geschweige denn gelehrt werden; die klassische Philo¬
logie ist eine in sich beruhende Welt, die sich am wohlsten befindet, wenn sie
sich in sich zu versenken Zeit genug hat. Es ist eine traurige Folge der heute
herrschenden Unterrichtskonfnsion in Deutschland, daß sich ein gebildeter Mann
immerfort in die Lage gesetzt sieht, sich gegen den Verdacht zu verwahren,
als wäre er ein Feind der klassischen Studien oder gar der Griechen und
Römer und ihrer Kultur im besondern; aber soll mau aus Furcht, von bös¬
willigen Leuten verleumdet zu werden, beständig genötigt sein, die aller-
gewöhnlichsten Thatsachen zu verschweigen?

Das deutsche Gymnasium beruhte seit undenklicher Zeit ans der vor¬
herrschenden Ausbildung seiner Lehrer in der klassischen Philologie und darf
sich seiner in aller Welt hinreichend gewürdigten Verdienste sattsam rühmen
und erfreuen. Aber jeder Verständige muß doch einsehen, daß, wenn Johannes
Sturm vor dreihundert Jahren sein Musterghmnasium beruhigt seinen Philo¬
logen in die Hand geben konnte, er wohl nicht daran gedacht hat, daß diese
trefflich gebildeten Humanisten dereinst von dem dreißigjährigen und sieben¬
jährigen Kriege, von der französischen Revolution, den Freiheitskriegen und
den Nationalstanten des neunzehnten Jahrhunderts zu handeln haben würden,
alles Dinge, die mit ihrer Wissenschaft nichts zu thun haben. Nun hat aber
der moderne Bürokratismus dafür gesorgt, daß die unheimlich altertümliche
Ehe zwischen Philologie und Geschichte nicht nnr in den Schuleinrichtungen,
sondern auch in deu Prüfungs- und Lehrbefähigungsbestimmnngeu uicht nur
aufrecht erdulden, sondern immer fester ausgebildet wird. Daß auf diese Weise
Aufgaben vorgezeichnet wurden, die uicht glatt erfüllt werdeu konnten, ist klar.
Ich habe schon anderwärts den Nachweis geführt, daß in Preußen die Kandi¬
daten der Philologie, die sich zu gleicher Zeit die Lehrbefähigung in Geschichte
zu erwerbe" suchen, ungemein zahlreich sind, daß aber mir eine verschwindend
kleine Zahl von diese" die Lehrbefähigung für die oberste Stufe wirklich erhält.
Mehr als achtzig Prozent dieser in Geschichte als Nebenfach geprüften Philo¬
logen hat nichts andres als eine untergeordnete Bildung in Geschichte auf der
Universität erworben. Ja es scheint mir von deu Untcrrichtsbchörden nicht
einmal der Nachweis geführt zu sein, daß der Unterricht auf der obersten
Stufe in Geschichte ausschließlich nur von solchen erteilt wird, die die Lehr¬
befähigung hierzu thatsächlich besitzen. Ich glaube nach vorläufiger Kenntnis-


Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte

Verständnis erfordert eine sehr ausgebreitete Lektüre in den mannichfaltigsten
Gebieten des modernen Geisteslebens, die Philologie dagegen ist eine Wissen¬
schaft, die ohne starke Vertiefung in das einzelste uicht gedeihen kann. Die
neuere Geschichte erfordert umfassende Sprachkenntnisse; der klassische Philolog
wird schwerlich in der Lage sein, auch noch Französisch, Englisch, Italienisch
und Spanisch zu betreiben. Die neuere Geschichte kann ohne das ansgebreitetste
Studium der Litteraturen und der Philosophie der großen Kulturvölker über¬
haupt nicht verstanden, geschweige denn gelehrt werden; die klassische Philo¬
logie ist eine in sich beruhende Welt, die sich am wohlsten befindet, wenn sie
sich in sich zu versenken Zeit genug hat. Es ist eine traurige Folge der heute
herrschenden Unterrichtskonfnsion in Deutschland, daß sich ein gebildeter Mann
immerfort in die Lage gesetzt sieht, sich gegen den Verdacht zu verwahren,
als wäre er ein Feind der klassischen Studien oder gar der Griechen und
Römer und ihrer Kultur im besondern; aber soll mau aus Furcht, von bös¬
willigen Leuten verleumdet zu werden, beständig genötigt sein, die aller-
gewöhnlichsten Thatsachen zu verschweigen?

Das deutsche Gymnasium beruhte seit undenklicher Zeit ans der vor¬
herrschenden Ausbildung seiner Lehrer in der klassischen Philologie und darf
sich seiner in aller Welt hinreichend gewürdigten Verdienste sattsam rühmen
und erfreuen. Aber jeder Verständige muß doch einsehen, daß, wenn Johannes
Sturm vor dreihundert Jahren sein Musterghmnasium beruhigt seinen Philo¬
logen in die Hand geben konnte, er wohl nicht daran gedacht hat, daß diese
trefflich gebildeten Humanisten dereinst von dem dreißigjährigen und sieben¬
jährigen Kriege, von der französischen Revolution, den Freiheitskriegen und
den Nationalstanten des neunzehnten Jahrhunderts zu handeln haben würden,
alles Dinge, die mit ihrer Wissenschaft nichts zu thun haben. Nun hat aber
der moderne Bürokratismus dafür gesorgt, daß die unheimlich altertümliche
Ehe zwischen Philologie und Geschichte nicht nnr in den Schuleinrichtungen,
sondern auch in deu Prüfungs- und Lehrbefähigungsbestimmnngeu uicht nur
aufrecht erdulden, sondern immer fester ausgebildet wird. Daß auf diese Weise
Aufgaben vorgezeichnet wurden, die uicht glatt erfüllt werdeu konnten, ist klar.
Ich habe schon anderwärts den Nachweis geführt, daß in Preußen die Kandi¬
daten der Philologie, die sich zu gleicher Zeit die Lehrbefähigung in Geschichte
zu erwerbe» suchen, ungemein zahlreich sind, daß aber mir eine verschwindend
kleine Zahl von diese« die Lehrbefähigung für die oberste Stufe wirklich erhält.
Mehr als achtzig Prozent dieser in Geschichte als Nebenfach geprüften Philo¬
logen hat nichts andres als eine untergeordnete Bildung in Geschichte auf der
Universität erworben. Ja es scheint mir von deu Untcrrichtsbchörden nicht
einmal der Nachweis geführt zu sein, daß der Unterricht auf der obersten
Stufe in Geschichte ausschließlich nur von solchen erteilt wird, die die Lehr¬
befähigung hierzu thatsächlich besitzen. Ich glaube nach vorläufiger Kenntnis-


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[0523] Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte Verständnis erfordert eine sehr ausgebreitete Lektüre in den mannichfaltigsten Gebieten des modernen Geisteslebens, die Philologie dagegen ist eine Wissen¬ schaft, die ohne starke Vertiefung in das einzelste uicht gedeihen kann. Die neuere Geschichte erfordert umfassende Sprachkenntnisse; der klassische Philolog wird schwerlich in der Lage sein, auch noch Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch zu betreiben. Die neuere Geschichte kann ohne das ansgebreitetste Studium der Litteraturen und der Philosophie der großen Kulturvölker über¬ haupt nicht verstanden, geschweige denn gelehrt werden; die klassische Philo¬ logie ist eine in sich beruhende Welt, die sich am wohlsten befindet, wenn sie sich in sich zu versenken Zeit genug hat. Es ist eine traurige Folge der heute herrschenden Unterrichtskonfnsion in Deutschland, daß sich ein gebildeter Mann immerfort in die Lage gesetzt sieht, sich gegen den Verdacht zu verwahren, als wäre er ein Feind der klassischen Studien oder gar der Griechen und Römer und ihrer Kultur im besondern; aber soll mau aus Furcht, von bös¬ willigen Leuten verleumdet zu werden, beständig genötigt sein, die aller- gewöhnlichsten Thatsachen zu verschweigen? Das deutsche Gymnasium beruhte seit undenklicher Zeit ans der vor¬ herrschenden Ausbildung seiner Lehrer in der klassischen Philologie und darf sich seiner in aller Welt hinreichend gewürdigten Verdienste sattsam rühmen und erfreuen. Aber jeder Verständige muß doch einsehen, daß, wenn Johannes Sturm vor dreihundert Jahren sein Musterghmnasium beruhigt seinen Philo¬ logen in die Hand geben konnte, er wohl nicht daran gedacht hat, daß diese trefflich gebildeten Humanisten dereinst von dem dreißigjährigen und sieben¬ jährigen Kriege, von der französischen Revolution, den Freiheitskriegen und den Nationalstanten des neunzehnten Jahrhunderts zu handeln haben würden, alles Dinge, die mit ihrer Wissenschaft nichts zu thun haben. Nun hat aber der moderne Bürokratismus dafür gesorgt, daß die unheimlich altertümliche Ehe zwischen Philologie und Geschichte nicht nnr in den Schuleinrichtungen, sondern auch in deu Prüfungs- und Lehrbefähigungsbestimmnngeu uicht nur aufrecht erdulden, sondern immer fester ausgebildet wird. Daß auf diese Weise Aufgaben vorgezeichnet wurden, die uicht glatt erfüllt werdeu konnten, ist klar. Ich habe schon anderwärts den Nachweis geführt, daß in Preußen die Kandi¬ daten der Philologie, die sich zu gleicher Zeit die Lehrbefähigung in Geschichte zu erwerbe» suchen, ungemein zahlreich sind, daß aber mir eine verschwindend kleine Zahl von diese« die Lehrbefähigung für die oberste Stufe wirklich erhält. Mehr als achtzig Prozent dieser in Geschichte als Nebenfach geprüften Philo¬ logen hat nichts andres als eine untergeordnete Bildung in Geschichte auf der Universität erworben. Ja es scheint mir von deu Untcrrichtsbchörden nicht einmal der Nachweis geführt zu sein, daß der Unterricht auf der obersten Stufe in Geschichte ausschließlich nur von solchen erteilt wird, die die Lehr¬ befähigung hierzu thatsächlich besitzen. Ich glaube nach vorläufiger Kenntnis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/523>, abgerufen am 24.07.2024.