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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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sich ja nur unter sich verständigen wollen, herabgewürdigt und in die Gefahr
gebracht werde, zu wertlosen Geiueiugute zu werden. Die Statistik ist ein
Wissen aus dein Leben und für das Leben, nud das soll sie bleiben.

Mau wird diese Abschweifung vom Gegenstande entschuldigen; es scheint
um so nötiger, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft
für das Leben arbeiten muß, als gerade in jüngster Zeit wieder bei dem
Streit um die Schulfrage recht deutlich die Besorgnis wahrnehmbar wurde,
es möchte bei dieser Gelegenheit das Bildungsniveau der Lehrer herabgedrückt
werdeu, die dann mit ihrem überflüssigen philologischen Wissen nichts Rechtes
mehr anzusaugen wüßten, während man doch meinen sollte, es handle sich in
erster Linie darum, wie die Jugend für das Leben heranzubilden sei. Börne
hat einmal gesagt, daß die schlimmste von allen Aristokratien die des Geistes
sei. Unser nationales Leben, die Entwicklung unsrer nationalen Kräfte leidet
unter den Vorurteilen einer Geistesaristokratie, deren Herrschaft den ungestümen
Anforderungen des Lebens auf die Dauer nicht wird widerstehen können.

Bei der jüngsten der Wissenschaften, der Statistik, möge man daher arg¬
wöhnisch darauf achten, daß nicht auch hier die gelehrte Neigung, wie ans
andern Gebieten des Wissens, entstehen möge, etwas Zünftige? zu schaffen.
Was würde z. B. aus der Statistik werden, wenn aller Stoff in "graphischen
Darstellungen," in Kartogrammen, in Flächen- und Liuiendiagrammeu vor¬
geführt werden, wenn aus den Tabelleuwerken jeder erläuternde Text ver¬
schwinden sollte? Aber nicht nur eine gelehrte Sucht ist in dieser Richtung
zu befürchten. Auch die amtliche Statistik scheint mitunter, um sich nicht dem
Verdacht offiziöser Färbung auszusetzen, ans Erläuterungen zu verzichten, und
endlich führen auch die geschäftlichen Bedürfnisse nüchterner Rechner, wie der
Engländer und Amerikaner, dazu, daß man sich mit langem Zahlenreihen ohne
Text in der Meinung abfindet, daß sich die Schwankungen der Erscheinungen
und die Uugleichartigkeiteu der Ursachen immerhin nahezu wieder ausgleichen.
Der Geschäftsmann mag sich Dnrchschnittswahrheiten und Wahrscheinlichkeiten
genügen lassen. Für die Spekulation oder für ein oberflächliches Wissens-
bedürfnis ist dies ausreichend. Es genügt auch für Politiker, die, wie
Demosthenes einmal den Athenern vorgeworfen hat, lieber rasch einen unge¬
fähr richtigen Begriff von einer Sache gewinnen, als sich ruhig und gründlich
belehren lassen wollen. Aber die Verwaltung muß auf die Thatsachen zurück¬
gehen, die den Zahlen zu Grnnde liegen, und ein gleiches Bedürfnis besteht
für die Volkswirtschaft, für die Kenntnis der Gesetze des Lebens und der
Gesellschaft.

Wo eine Zahl nicht das Merkmal einer stetigen und allgemeinen, sondern
einer zufälligen und vereinzelten Ursache ist, wo demnach eine Störung vor¬
liegt, und irrtümlich in der Zahl das Anzeichen einer Regelmäßigkeit oder
Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen gesucht würde, da möge also die amtliche


sich ja nur unter sich verständigen wollen, herabgewürdigt und in die Gefahr
gebracht werde, zu wertlosen Geiueiugute zu werden. Die Statistik ist ein
Wissen aus dein Leben und für das Leben, nud das soll sie bleiben.

Mau wird diese Abschweifung vom Gegenstande entschuldigen; es scheint
um so nötiger, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft
für das Leben arbeiten muß, als gerade in jüngster Zeit wieder bei dem
Streit um die Schulfrage recht deutlich die Besorgnis wahrnehmbar wurde,
es möchte bei dieser Gelegenheit das Bildungsniveau der Lehrer herabgedrückt
werdeu, die dann mit ihrem überflüssigen philologischen Wissen nichts Rechtes
mehr anzusaugen wüßten, während man doch meinen sollte, es handle sich in
erster Linie darum, wie die Jugend für das Leben heranzubilden sei. Börne
hat einmal gesagt, daß die schlimmste von allen Aristokratien die des Geistes
sei. Unser nationales Leben, die Entwicklung unsrer nationalen Kräfte leidet
unter den Vorurteilen einer Geistesaristokratie, deren Herrschaft den ungestümen
Anforderungen des Lebens auf die Dauer nicht wird widerstehen können.

Bei der jüngsten der Wissenschaften, der Statistik, möge man daher arg¬
wöhnisch darauf achten, daß nicht auch hier die gelehrte Neigung, wie ans
andern Gebieten des Wissens, entstehen möge, etwas Zünftige? zu schaffen.
Was würde z. B. aus der Statistik werden, wenn aller Stoff in „graphischen
Darstellungen," in Kartogrammen, in Flächen- und Liuiendiagrammeu vor¬
geführt werden, wenn aus den Tabelleuwerken jeder erläuternde Text ver¬
schwinden sollte? Aber nicht nur eine gelehrte Sucht ist in dieser Richtung
zu befürchten. Auch die amtliche Statistik scheint mitunter, um sich nicht dem
Verdacht offiziöser Färbung auszusetzen, ans Erläuterungen zu verzichten, und
endlich führen auch die geschäftlichen Bedürfnisse nüchterner Rechner, wie der
Engländer und Amerikaner, dazu, daß man sich mit langem Zahlenreihen ohne
Text in der Meinung abfindet, daß sich die Schwankungen der Erscheinungen
und die Uugleichartigkeiteu der Ursachen immerhin nahezu wieder ausgleichen.
Der Geschäftsmann mag sich Dnrchschnittswahrheiten und Wahrscheinlichkeiten
genügen lassen. Für die Spekulation oder für ein oberflächliches Wissens-
bedürfnis ist dies ausreichend. Es genügt auch für Politiker, die, wie
Demosthenes einmal den Athenern vorgeworfen hat, lieber rasch einen unge¬
fähr richtigen Begriff von einer Sache gewinnen, als sich ruhig und gründlich
belehren lassen wollen. Aber die Verwaltung muß auf die Thatsachen zurück¬
gehen, die den Zahlen zu Grnnde liegen, und ein gleiches Bedürfnis besteht
für die Volkswirtschaft, für die Kenntnis der Gesetze des Lebens und der
Gesellschaft.

Wo eine Zahl nicht das Merkmal einer stetigen und allgemeinen, sondern
einer zufälligen und vereinzelten Ursache ist, wo demnach eine Störung vor¬
liegt, und irrtümlich in der Zahl das Anzeichen einer Regelmäßigkeit oder
Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen gesucht würde, da möge also die amtliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/507>, abgerufen am 24.07.2024.