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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Volke bestritten, so meisterhaft im übrigen auch die Charakteristik des ver¬
lotterten Wieners ist; es bleibt doch beim realistischen Sittenbild.

Das Gefühl von Gott, eine mystische Stimmung, eine Art von Offen¬
barung der wahren Frömmigkeit, ist also das Urerlebnis in Anzengrnbers
Seele; davon liebt er auszugehen, darauf liebt er zurückzukommen, es ist der
Mittelpunkt seines geistigen Wesens, von hier aus findet er den Maßstab für
die Beurteilung der Menschen. Als auf ein Beispiel sür viele sei auf die
kleine Meistererzählung "Ortler" verwiesen, die ein Charakterbild von Menschen
entwirft, die in kleiner Anzahl ii? tiefer Bergeinsamkeit eine Dorfgemeinschaft
bilden, abgeschlossen von aller Welt, von der sie kaum einmal in langen
Zwischenräumen Nachricht erhalten. Die eigentliche Erzählung enthält gar
kein religiöses Motiv; es handelt sich nnr um deu Gegensatz zweier Trotz-
köpfe, Vater und Sohn, die wegen eines Mädchens, das der Sohn liebt,
der Vater aber (mit Recht) verachtet, auseinanderkommen; der Sohn geht
aus Trotz zu den Soldaten, obgleich er es nicht nötig hatte, und wird da¬
durch dem Bauernstand zum Schmerze des Vaters entrissen. Also nicht das
geringste religiöse Motiv. Dennoch kann es der Dichter nicht unterlassen, in
der einleitenden Charakteristik der Ortler lächelnd von ihrer kindlichen Ver¬
trautheit mit Gott zu reden. Er hat eben von diesem Verhältnis der Men¬
schen zu Gott am leichtesten die Brücke gefunden, auf der er in ihre Seele
gelangen konnte. Das "Vierte Gebot" nimmt auch einen "katechetischen" Aus¬
gangspunkt. Sehr bezeichnend für Anzengrnbers ganze Weltanschauung ist
ein kleines phantastisches Stück: "Tenfelstrünme." Da wird uns ein von
unendlicher Langeweile geplagter englischer Lord Edward Knuddle launig
geschildert. Der Lord schläft ein und träumt, er befinde sich am Nordpol.
Der Erdball ist ein großes Schiff, auf dem sich die Menschen den Platz
streitig machen. In der Mitte steht der Kapitän, ein Manu mit eisgrauen
Bart, mit einem Fernrohr in die unendliche Ferne tugend. "Wohin steuern
wir?" fragt ihn der Lord. "Nach Gott!" sagt der Kapitän. "Nun," spricht
der Lord, "dann segelt ihr diesen Weg nicht zum erstenmal. Wenn nicht
alle Ahnungen und Offenbarungen, die dein Menschengeschlechte seit Anbeginn
der Welt geworden sind, trügen, so wissen wir den Kurs!" Darauf sagt der
Kapitän: "Ahnungen und Offenbarungen sind nur Versuche mit dem Senk¬
blei. Keines aller jener Fahrzeuge -- er neigte das Fernrohr leicht gegen den
sternbesäten Himmel -- die da mit uns eiuhersegeln, weiß den Kurs; einige
sind früher ausgesegelt als wir, wir fahren schon an die sechstausend Jahre,
und noch ist nichts in Sicht." Der Lord: ,,Und keine Anzeichen ^ --?"
Der Kapitän unterbricht den Sprecher dnrch eine ungeduldige Bewegung, in¬
dem er das Fernrohr vors Auge bringt: "Keine!" Dann setzt er in milderem
Tone hinzu: "Aber das nächste Jahrtausend kann sie bringen, es wird sie bringen!
Wir thun jeder unsre Pflicht!" Wie der Kapitän, so denkt auch der Dichter.


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Volke bestritten, so meisterhaft im übrigen auch die Charakteristik des ver¬
lotterten Wieners ist; es bleibt doch beim realistischen Sittenbild.

Das Gefühl von Gott, eine mystische Stimmung, eine Art von Offen¬
barung der wahren Frömmigkeit, ist also das Urerlebnis in Anzengrnbers
Seele; davon liebt er auszugehen, darauf liebt er zurückzukommen, es ist der
Mittelpunkt seines geistigen Wesens, von hier aus findet er den Maßstab für
die Beurteilung der Menschen. Als auf ein Beispiel sür viele sei auf die
kleine Meistererzählung „Ortler" verwiesen, die ein Charakterbild von Menschen
entwirft, die in kleiner Anzahl ii? tiefer Bergeinsamkeit eine Dorfgemeinschaft
bilden, abgeschlossen von aller Welt, von der sie kaum einmal in langen
Zwischenräumen Nachricht erhalten. Die eigentliche Erzählung enthält gar
kein religiöses Motiv; es handelt sich nnr um deu Gegensatz zweier Trotz-
köpfe, Vater und Sohn, die wegen eines Mädchens, das der Sohn liebt,
der Vater aber (mit Recht) verachtet, auseinanderkommen; der Sohn geht
aus Trotz zu den Soldaten, obgleich er es nicht nötig hatte, und wird da¬
durch dem Bauernstand zum Schmerze des Vaters entrissen. Also nicht das
geringste religiöse Motiv. Dennoch kann es der Dichter nicht unterlassen, in
der einleitenden Charakteristik der Ortler lächelnd von ihrer kindlichen Ver¬
trautheit mit Gott zu reden. Er hat eben von diesem Verhältnis der Men¬
schen zu Gott am leichtesten die Brücke gefunden, auf der er in ihre Seele
gelangen konnte. Das „Vierte Gebot" nimmt auch einen „katechetischen" Aus¬
gangspunkt. Sehr bezeichnend für Anzengrnbers ganze Weltanschauung ist
ein kleines phantastisches Stück: „Tenfelstrünme." Da wird uns ein von
unendlicher Langeweile geplagter englischer Lord Edward Knuddle launig
geschildert. Der Lord schläft ein und träumt, er befinde sich am Nordpol.
Der Erdball ist ein großes Schiff, auf dem sich die Menschen den Platz
streitig machen. In der Mitte steht der Kapitän, ein Manu mit eisgrauen
Bart, mit einem Fernrohr in die unendliche Ferne tugend. „Wohin steuern
wir?" fragt ihn der Lord. „Nach Gott!" sagt der Kapitän. „Nun," spricht
der Lord, „dann segelt ihr diesen Weg nicht zum erstenmal. Wenn nicht
alle Ahnungen und Offenbarungen, die dein Menschengeschlechte seit Anbeginn
der Welt geworden sind, trügen, so wissen wir den Kurs!" Darauf sagt der
Kapitän: „Ahnungen und Offenbarungen sind nur Versuche mit dem Senk¬
blei. Keines aller jener Fahrzeuge — er neigte das Fernrohr leicht gegen den
sternbesäten Himmel — die da mit uns eiuhersegeln, weiß den Kurs; einige
sind früher ausgesegelt als wir, wir fahren schon an die sechstausend Jahre,
und noch ist nichts in Sicht." Der Lord: ,,Und keine Anzeichen ^ —?"
Der Kapitän unterbricht den Sprecher dnrch eine ungeduldige Bewegung, in¬
dem er das Fernrohr vors Auge bringt: „Keine!" Dann setzt er in milderem
Tone hinzu: „Aber das nächste Jahrtausend kann sie bringen, es wird sie bringen!
Wir thun jeder unsre Pflicht!" Wie der Kapitän, so denkt auch der Dichter.


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[0050] itudwig An^engrubcr Volke bestritten, so meisterhaft im übrigen auch die Charakteristik des ver¬ lotterten Wieners ist; es bleibt doch beim realistischen Sittenbild. Das Gefühl von Gott, eine mystische Stimmung, eine Art von Offen¬ barung der wahren Frömmigkeit, ist also das Urerlebnis in Anzengrnbers Seele; davon liebt er auszugehen, darauf liebt er zurückzukommen, es ist der Mittelpunkt seines geistigen Wesens, von hier aus findet er den Maßstab für die Beurteilung der Menschen. Als auf ein Beispiel sür viele sei auf die kleine Meistererzählung „Ortler" verwiesen, die ein Charakterbild von Menschen entwirft, die in kleiner Anzahl ii? tiefer Bergeinsamkeit eine Dorfgemeinschaft bilden, abgeschlossen von aller Welt, von der sie kaum einmal in langen Zwischenräumen Nachricht erhalten. Die eigentliche Erzählung enthält gar kein religiöses Motiv; es handelt sich nnr um deu Gegensatz zweier Trotz- köpfe, Vater und Sohn, die wegen eines Mädchens, das der Sohn liebt, der Vater aber (mit Recht) verachtet, auseinanderkommen; der Sohn geht aus Trotz zu den Soldaten, obgleich er es nicht nötig hatte, und wird da¬ durch dem Bauernstand zum Schmerze des Vaters entrissen. Also nicht das geringste religiöse Motiv. Dennoch kann es der Dichter nicht unterlassen, in der einleitenden Charakteristik der Ortler lächelnd von ihrer kindlichen Ver¬ trautheit mit Gott zu reden. Er hat eben von diesem Verhältnis der Men¬ schen zu Gott am leichtesten die Brücke gefunden, auf der er in ihre Seele gelangen konnte. Das „Vierte Gebot" nimmt auch einen „katechetischen" Aus¬ gangspunkt. Sehr bezeichnend für Anzengrnbers ganze Weltanschauung ist ein kleines phantastisches Stück: „Tenfelstrünme." Da wird uns ein von unendlicher Langeweile geplagter englischer Lord Edward Knuddle launig geschildert. Der Lord schläft ein und träumt, er befinde sich am Nordpol. Der Erdball ist ein großes Schiff, auf dem sich die Menschen den Platz streitig machen. In der Mitte steht der Kapitän, ein Manu mit eisgrauen Bart, mit einem Fernrohr in die unendliche Ferne tugend. „Wohin steuern wir?" fragt ihn der Lord. „Nach Gott!" sagt der Kapitän. „Nun," spricht der Lord, „dann segelt ihr diesen Weg nicht zum erstenmal. Wenn nicht alle Ahnungen und Offenbarungen, die dein Menschengeschlechte seit Anbeginn der Welt geworden sind, trügen, so wissen wir den Kurs!" Darauf sagt der Kapitän: „Ahnungen und Offenbarungen sind nur Versuche mit dem Senk¬ blei. Keines aller jener Fahrzeuge — er neigte das Fernrohr leicht gegen den sternbesäten Himmel — die da mit uns eiuhersegeln, weiß den Kurs; einige sind früher ausgesegelt als wir, wir fahren schon an die sechstausend Jahre, und noch ist nichts in Sicht." Der Lord: ,,Und keine Anzeichen ^ —?" Der Kapitän unterbricht den Sprecher dnrch eine ungeduldige Bewegung, in¬ dem er das Fernrohr vors Auge bringt: „Keine!" Dann setzt er in milderem Tone hinzu: „Aber das nächste Jahrtausend kann sie bringen, es wird sie bringen! Wir thun jeder unsre Pflicht!" Wie der Kapitän, so denkt auch der Dichter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/50>, abgerufen am 24.07.2024.