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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hmnerlmg der Philosoph

können wir denn eigentlich erklären?" sagt er II, 222. "Können wir die
Schwere erklären? Die Anziehung und Abstoßung? Den Magnetismus? Die
Elektrizität?" Und das, nachdem er selbst alle diese Erscheinungen sehr schön
"erklärt" hat! Und nachdem er die Begriffe von Zeit und Raum klar gemacht
hat und die Antinomie, d. h. den Widerspruch, den Kant darin gefunden
hatte, gelöst zu habe" glaubt, läßt er sich doch den Ausruf entschlüpfen:
"Unter den Problemen der Philosophie wäre das der Zeit und des Raumes
allein schon genügend, um darüber den Verstand zu verlieren." Nach dem
Schlnßkapitel hätte das gegenwärtige Menschengeschlecht überhaupt nichts mehr
zu erwarten; selbst wenn uns die Zukunft noch neue Aufschlüsse über den
ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen bringen sollte, so würde uns
dieser Fortschritt der Erkenntnis nicht entschädigen für die zu gewärtigende
Verarmung unsers Gemütslebens. ,,Wißt ihr, woran die Welt zu Grunde
gehen wird? Durch das Umsichgreifen jenes vernichtenden Prinzips, das wir
Verstand nennen . . . Das Erd- und Menschheitsleben geht in derselben Weise
zu Grunde, wie das Leben des Individuums zu Grunde geht, welches keines¬
wegs um Anfang oder am Ende, sondern in der Mitte seiner Laufbahn zum
Gipfelpunkt seiner Blüte gelangt. . . . Das geistig wahrhaft Schöpferische,
Lebendige, Göttliche ruht immer im Unbewußten, das u. a. den Mythos nud
die Sprache geschaffen. . . . Allerdings bringt der Verstand und das Bewußte
in uns das Leben zur höchsten Reife, aber über die Reife hinaus fortwirkend führt
er es mit gleicher Notwendigkeit seinem Untergang entgegen. . . . Neue Epochen
mögen kommen; aber die griechisch-germanische Weltepvche hat ihren Gipfelpunkt in
Beziehung auf Litteratur und Kunst hinter sich. Frisches Völkermaterial wird
zur Begründung eines neuen, schöpferkräftigen Kunst- und Litteraturlebeus
nötig sein. sWie aus einer andern Stelle hervorgeht, denkt Hamerling an
die Slawen; warum nicht an die Kalmücken?^ Das von deu Sagen aus
Weltende gesetzte Gottesreich bedeutet nur die Zurücknahme alles Lebens in
den Inatürlich unbewußte"! Geist, die sich auch einzeln und individuell voll¬
ziehen läßt." Wie? das erfahren wir nicht.

Wenig schmeichelhaft für unsre Zeit klingt auch, was Hamerling über die
Gestalt schreibt, die der Mystizismus heutzutage angenommen hat (II, 140 ff.).
"Wohin sind die stigmatisirten weiblichen Heiligen, die ekstatischen Jnngfrciuen
früherer Jahrzehnte im katholischen und die Seherinnen im protestantischen
Deutschland gekommen, welche im magischen Traumschlaf Bände voll höherer
Weisheit in die Feder ihrer Ärzte diktirteu? Heute erscheinen zwar die Geister
der Weisen selbst ans dein Jenseits, aber es ist nicht "höhere Weisheit,"
sondern meist "höherer Blödsinn," was sie sagen oder ans Schiefertafeln
schreiben. . . Es scheint, daß jede Zeit wie jedes Volk die "Geister" besitzt,
die sie verdient. . . . Dehnte wirklich die kleine Narrenwelt makrvkvsmisch sich
bis hinter die Kulissen dieser Welt ins Jenseits aus, so muß ich sagen, daß


Hmnerlmg der Philosoph

können wir denn eigentlich erklären?" sagt er II, 222. „Können wir die
Schwere erklären? Die Anziehung und Abstoßung? Den Magnetismus? Die
Elektrizität?" Und das, nachdem er selbst alle diese Erscheinungen sehr schön
„erklärt" hat! Und nachdem er die Begriffe von Zeit und Raum klar gemacht
hat und die Antinomie, d. h. den Widerspruch, den Kant darin gefunden
hatte, gelöst zu habe» glaubt, läßt er sich doch den Ausruf entschlüpfen:
„Unter den Problemen der Philosophie wäre das der Zeit und des Raumes
allein schon genügend, um darüber den Verstand zu verlieren." Nach dem
Schlnßkapitel hätte das gegenwärtige Menschengeschlecht überhaupt nichts mehr
zu erwarten; selbst wenn uns die Zukunft noch neue Aufschlüsse über den
ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen bringen sollte, so würde uns
dieser Fortschritt der Erkenntnis nicht entschädigen für die zu gewärtigende
Verarmung unsers Gemütslebens. ,,Wißt ihr, woran die Welt zu Grunde
gehen wird? Durch das Umsichgreifen jenes vernichtenden Prinzips, das wir
Verstand nennen . . . Das Erd- und Menschheitsleben geht in derselben Weise
zu Grunde, wie das Leben des Individuums zu Grunde geht, welches keines¬
wegs um Anfang oder am Ende, sondern in der Mitte seiner Laufbahn zum
Gipfelpunkt seiner Blüte gelangt. . . . Das geistig wahrhaft Schöpferische,
Lebendige, Göttliche ruht immer im Unbewußten, das u. a. den Mythos nud
die Sprache geschaffen. . . . Allerdings bringt der Verstand und das Bewußte
in uns das Leben zur höchsten Reife, aber über die Reife hinaus fortwirkend führt
er es mit gleicher Notwendigkeit seinem Untergang entgegen. . . . Neue Epochen
mögen kommen; aber die griechisch-germanische Weltepvche hat ihren Gipfelpunkt in
Beziehung auf Litteratur und Kunst hinter sich. Frisches Völkermaterial wird
zur Begründung eines neuen, schöpferkräftigen Kunst- und Litteraturlebeus
nötig sein. sWie aus einer andern Stelle hervorgeht, denkt Hamerling an
die Slawen; warum nicht an die Kalmücken?^ Das von deu Sagen aus
Weltende gesetzte Gottesreich bedeutet nur die Zurücknahme alles Lebens in
den Inatürlich unbewußte»! Geist, die sich auch einzeln und individuell voll¬
ziehen läßt." Wie? das erfahren wir nicht.

Wenig schmeichelhaft für unsre Zeit klingt auch, was Hamerling über die
Gestalt schreibt, die der Mystizismus heutzutage angenommen hat (II, 140 ff.).
„Wohin sind die stigmatisirten weiblichen Heiligen, die ekstatischen Jnngfrciuen
früherer Jahrzehnte im katholischen und die Seherinnen im protestantischen
Deutschland gekommen, welche im magischen Traumschlaf Bände voll höherer
Weisheit in die Feder ihrer Ärzte diktirteu? Heute erscheinen zwar die Geister
der Weisen selbst ans dein Jenseits, aber es ist nicht »höhere Weisheit,«
sondern meist „höherer Blödsinn," was sie sagen oder ans Schiefertafeln
schreiben. . . Es scheint, daß jede Zeit wie jedes Volk die »Geister« besitzt,
die sie verdient. . . . Dehnte wirklich die kleine Narrenwelt makrvkvsmisch sich
bis hinter die Kulissen dieser Welt ins Jenseits aus, so muß ich sagen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/481>, abgerufen am 24.07.2024.