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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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gelegt, zu Fuß, in militärischem Geleit den Heimweg antreten. Nicht selten
sind darunter Juden aus besserer Lebenslage; ein Mann mit einem guten
Reisekoffer in der Hand und Haudschellen am Knöchel, das ist nicht eben eine
christliche Behandlung. Dabei verordnet noch das bisherige Gesetz, daß der
Auswanderer 100 Rubel Steuer an den Staat zu erlegen habe. Würde
dieses Gesetz hier angewandt, was freilich nur selten vorkommen mag, so
behielte man die Masse der Armen gewaltsam im Lande, denn in der Regel
hat der auswandernde Jude wenig mehr als das Reisegeld, oft auch das nicht.
Doch wird hier ohne Zweifel Wandel geschafft werden.

Selbst die Art der Gesetzgebung hat Schuld an dem Elend; denn heute
wird eine Verordnung erlassen, die morgen wieder geändert wird, und der
Jude, der sich heute nach dem Gesetz einrichtet, verliert morgen seine Nahrung
dnrch das neue Gesetz; der stete Wechsel, dieses Umhersuchen nach einem Mittel,
sie fern oder in Schranken zu halten, ohne zu einem Abschluß zu kommen,
führt viele Unbilligkeit mit sich. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es
allenfalls zu billigen, wenn die Juden überall in schonender, aber entschiedener
Weise aus Rußland hinausgedrängt würde". Aber wird es dabei bleiben?
Schwerlich, denn das heutige System wird nicht ewig dauern, und es giebt
kein Gesetz, worin der Jude nicht ein Loch fände; besonders kein russisches.
Und dann: wohin? Wenn man sie einmal in das Staatsghetto sperrt, müßte
mau doch wenigstens zusehen, ob dadriu auch so viel Nahrung ist, daß sie
nicht verhungern oder zum Verbrechen greifen müssen. Und die Nahrung
wird, wie gesagt, nicht ausreichen.

Deutschland hat seine Grenze gegen die Einwanderung der armen und
dein Staate keineswegs nützlichen jüdischen Schnorrer seit sechs Jahren ziemlich
dicht geschlossen. Aber darf mau annehmen, daß das heutige System der
grundsätzlichen staatlichen Absperrung auf wirtschaftlichem und nationalem Gebiet
lange herrschen werde? Schwerlich; und dann wird Polen doch wieder der
Quell sein, ans dem sich das Judentum in rohester Form zu uns ergießen
wird. Ohnehin wird es, etwa über Österreich, schon Wege finden, auch
bei dein gegenwärtigen System hereinzukommen, um so eher, se stärker der
Druck ist, den Rußland ausübt. Wenn Österreich den russischen Juden seine
Grenze nicht schließt und mit dem neuen Handelsverträge die deutsch-österreichische
Grenze einen leichten Verkehr gestatten wird, so werden wir die Folgen der
russischen Ghettopolitik sehr bald spüren. Die Judenfrage ist eben international
und wird es bleiben, es sei denn, daß die Geldbarvne sie lösen. Wollte es
Rußland machen wie Spanien vor dreihundert Jahren, nämlich seine Juden
nicht bloß aus den inuerrussischen Provinzen, sondern aus den Grenzen des
Staates vertreiben, so würde es dein eignen Volke, wenigstens dem freilich
nicht national russischen des Westens, schweres Uicheil zufügen; es würde lange
währen, bis an die Stelle der Juden in den Städten christliche Händler und


gelegt, zu Fuß, in militärischem Geleit den Heimweg antreten. Nicht selten
sind darunter Juden aus besserer Lebenslage; ein Mann mit einem guten
Reisekoffer in der Hand und Haudschellen am Knöchel, das ist nicht eben eine
christliche Behandlung. Dabei verordnet noch das bisherige Gesetz, daß der
Auswanderer 100 Rubel Steuer an den Staat zu erlegen habe. Würde
dieses Gesetz hier angewandt, was freilich nur selten vorkommen mag, so
behielte man die Masse der Armen gewaltsam im Lande, denn in der Regel
hat der auswandernde Jude wenig mehr als das Reisegeld, oft auch das nicht.
Doch wird hier ohne Zweifel Wandel geschafft werden.

Selbst die Art der Gesetzgebung hat Schuld an dem Elend; denn heute
wird eine Verordnung erlassen, die morgen wieder geändert wird, und der
Jude, der sich heute nach dem Gesetz einrichtet, verliert morgen seine Nahrung
dnrch das neue Gesetz; der stete Wechsel, dieses Umhersuchen nach einem Mittel,
sie fern oder in Schranken zu halten, ohne zu einem Abschluß zu kommen,
führt viele Unbilligkeit mit sich. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es
allenfalls zu billigen, wenn die Juden überall in schonender, aber entschiedener
Weise aus Rußland hinausgedrängt würde». Aber wird es dabei bleiben?
Schwerlich, denn das heutige System wird nicht ewig dauern, und es giebt
kein Gesetz, worin der Jude nicht ein Loch fände; besonders kein russisches.
Und dann: wohin? Wenn man sie einmal in das Staatsghetto sperrt, müßte
mau doch wenigstens zusehen, ob dadriu auch so viel Nahrung ist, daß sie
nicht verhungern oder zum Verbrechen greifen müssen. Und die Nahrung
wird, wie gesagt, nicht ausreichen.

Deutschland hat seine Grenze gegen die Einwanderung der armen und
dein Staate keineswegs nützlichen jüdischen Schnorrer seit sechs Jahren ziemlich
dicht geschlossen. Aber darf mau annehmen, daß das heutige System der
grundsätzlichen staatlichen Absperrung auf wirtschaftlichem und nationalem Gebiet
lange herrschen werde? Schwerlich; und dann wird Polen doch wieder der
Quell sein, ans dem sich das Judentum in rohester Form zu uns ergießen
wird. Ohnehin wird es, etwa über Österreich, schon Wege finden, auch
bei dein gegenwärtigen System hereinzukommen, um so eher, se stärker der
Druck ist, den Rußland ausübt. Wenn Österreich den russischen Juden seine
Grenze nicht schließt und mit dem neuen Handelsverträge die deutsch-österreichische
Grenze einen leichten Verkehr gestatten wird, so werden wir die Folgen der
russischen Ghettopolitik sehr bald spüren. Die Judenfrage ist eben international
und wird es bleiben, es sei denn, daß die Geldbarvne sie lösen. Wollte es
Rußland machen wie Spanien vor dreihundert Jahren, nämlich seine Juden
nicht bloß aus den inuerrussischen Provinzen, sondern aus den Grenzen des
Staates vertreiben, so würde es dein eignen Volke, wenigstens dem freilich
nicht national russischen des Westens, schweres Uicheil zufügen; es würde lange
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/457>, abgerufen am 04.07.2024.