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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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faßt ihn der Polizeimann wieder beim Kragen, und die Zitrone wird wieder
ausgepreßt, und so jedes Jahr. Oder es kommt gar ein Pvlizeimeister in die
Stadt oder den Kreis, der ehrlich und unbestechlich ist. Das ist das Schlimmste,
besonders wenn er nichts vom Liberalismus hält. Dann wird das Gesetz
streng gehandhabt, also verboten, was der Vorgänger duldete, und die Juden
müssen fort. Aber die Beamten, die die Juden hineingelassen hatten, bleiben
unbestraft. Was alles möglich ist, das zeigen Vorgänge in Moskau aus aller-
neuester Zeit. Der Generalgvuverueur Fürst Dolgorukvw hatte sein Amt
niedergelegt; sein Nachfolger, Großfürst Sergius, erklärte, er werde das Amt
nicht eher übernehmen, mis bis alle Juden ans Moskau entfernt worden wären.
Nun kam die Judenvertreibnng, und da traten denn wunderbare Dinge aus
Licht. Der Jude durfte sich dort wie anderwärts in Rußland nur nieder¬
lassen als Kaufmann, Gelehrter, GeWerke und mußte einen entsprechenden
Schein besitzen. Aber ein Jude hatte dein andern geholfen, und so fand man
z. B. 230 Juden, die sich als Kutscher des reichen jüdischen Eisenbahnbaners
Poläkow auswiesen; jn dieser Sonderling hatte sogar 350 Köche jüdischer Nation
bei sich angestellt. Nun giebt es wohl in ganz Moskau weder einen Juden, der
das Handwerk eines Kutschers in einem Hause von Stande, noch einen, der das
eines Kochs ausübt, nud Poläkow selbst wird sich hüten, sich von einen: Juden
fahren oder sich seine Mahlzeiten von einem Juden bereiten zu lassen. Nach dem
Rücktritte Dvlgvrnkows stellte sich heraus, daß Herr Poläkow für 800000 Rubel
Wechsel des Fürsten in Händen hatte. Als der Zar sich anschickte, die sämtlichen
Schulden zu bezahlen, zerriß Poläkow die Wechsel, ohne Zahlung zu nehmen.

Auf den Universitäten sollen nur 5 Prozent jüdische Studenten geduldet
werde". Das ist zwar nicht eben liberal; aber es sind statt 5 Prozent 10,
20, 30 Prozent da, und wer weiß, ob man nicht den Überschuß ebenfalls
hinausjage" wird, was noch weit unliberaler wäre. Sie entziehen sich der
Wehrpflicht. Freilich, den" der Jude liebt es von Natur nicht, sich mit
Schieß- oder andern Waffen zu beschäftigen, und außerdem wartet seiner im
Dienst eine böse Behandlung: er wird gehöhnt als Jude, gehöhnt wegen seiner
Religion, seiner Sprache; mit Borliebe wird er gerade am Schabbes, am
Lanbhüttenfeste und zu andern jüdischen Festen zum Dienst gezogen. Also er
länft davon, sobald er in das dienstpflichtige Alter tritt. Aber nun wird die
Familie für den Sohn, die Gemeinde für die Familie verantwortlich gemacht:
300 Rubel für jeden, der sich nicht stellt. Gewaltige Summen an Strafgeldern
für jüdische Wegläufer ruhen bereits als Schulden auf deu meist armen
jüdischen Gemeinden in den Westprvvinzen. Auch sonst wird der Jude vom
russischen Beamten rauh, oft sehr hart behandelt, natürlich besonders dann,
wenn der Beamte wie heute weiß, daß mau oben hart gegen die J"de" ge¬
sinnt ist. Die Ausreißer z. B., die ohne Paß nach Deutschland oder Öster¬
reich hinüberschlüpfen wollen und dabei gefaßt werde", sieht ma" i" Ketten


faßt ihn der Polizeimann wieder beim Kragen, und die Zitrone wird wieder
ausgepreßt, und so jedes Jahr. Oder es kommt gar ein Pvlizeimeister in die
Stadt oder den Kreis, der ehrlich und unbestechlich ist. Das ist das Schlimmste,
besonders wenn er nichts vom Liberalismus hält. Dann wird das Gesetz
streng gehandhabt, also verboten, was der Vorgänger duldete, und die Juden
müssen fort. Aber die Beamten, die die Juden hineingelassen hatten, bleiben
unbestraft. Was alles möglich ist, das zeigen Vorgänge in Moskau aus aller-
neuester Zeit. Der Generalgvuverueur Fürst Dolgorukvw hatte sein Amt
niedergelegt; sein Nachfolger, Großfürst Sergius, erklärte, er werde das Amt
nicht eher übernehmen, mis bis alle Juden ans Moskau entfernt worden wären.
Nun kam die Judenvertreibnng, und da traten denn wunderbare Dinge aus
Licht. Der Jude durfte sich dort wie anderwärts in Rußland nur nieder¬
lassen als Kaufmann, Gelehrter, GeWerke und mußte einen entsprechenden
Schein besitzen. Aber ein Jude hatte dein andern geholfen, und so fand man
z. B. 230 Juden, die sich als Kutscher des reichen jüdischen Eisenbahnbaners
Poläkow auswiesen; jn dieser Sonderling hatte sogar 350 Köche jüdischer Nation
bei sich angestellt. Nun giebt es wohl in ganz Moskau weder einen Juden, der
das Handwerk eines Kutschers in einem Hause von Stande, noch einen, der das
eines Kochs ausübt, nud Poläkow selbst wird sich hüten, sich von einen: Juden
fahren oder sich seine Mahlzeiten von einem Juden bereiten zu lassen. Nach dem
Rücktritte Dvlgvrnkows stellte sich heraus, daß Herr Poläkow für 800000 Rubel
Wechsel des Fürsten in Händen hatte. Als der Zar sich anschickte, die sämtlichen
Schulden zu bezahlen, zerriß Poläkow die Wechsel, ohne Zahlung zu nehmen.

Auf den Universitäten sollen nur 5 Prozent jüdische Studenten geduldet
werde». Das ist zwar nicht eben liberal; aber es sind statt 5 Prozent 10,
20, 30 Prozent da, und wer weiß, ob man nicht den Überschuß ebenfalls
hinausjage» wird, was noch weit unliberaler wäre. Sie entziehen sich der
Wehrpflicht. Freilich, den» der Jude liebt es von Natur nicht, sich mit
Schieß- oder andern Waffen zu beschäftigen, und außerdem wartet seiner im
Dienst eine böse Behandlung: er wird gehöhnt als Jude, gehöhnt wegen seiner
Religion, seiner Sprache; mit Borliebe wird er gerade am Schabbes, am
Lanbhüttenfeste und zu andern jüdischen Festen zum Dienst gezogen. Also er
länft davon, sobald er in das dienstpflichtige Alter tritt. Aber nun wird die
Familie für den Sohn, die Gemeinde für die Familie verantwortlich gemacht:
300 Rubel für jeden, der sich nicht stellt. Gewaltige Summen an Strafgeldern
für jüdische Wegläufer ruhen bereits als Schulden auf deu meist armen
jüdischen Gemeinden in den Westprvvinzen. Auch sonst wird der Jude vom
russischen Beamten rauh, oft sehr hart behandelt, natürlich besonders dann,
wenn der Beamte wie heute weiß, daß mau oben hart gegen die J»de» ge¬
sinnt ist. Die Ausreißer z. B., die ohne Paß nach Deutschland oder Öster¬
reich hinüberschlüpfen wollen und dabei gefaßt werde», sieht ma» i» Ketten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/456>, abgerufen am 24.07.2024.