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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Rothschild und Rußland

der große nationale Führer Katkow seinen jährlichen Tribut von den Juden
bezog, dafür daß er sie in seiner "Moskaner Zeitung" ungeschoren ließ. Ganz
neuerdings scheint sogar einer der höchsten Würdenträger des Zarenreiches,
der eben zurückgetretene Geueralgouverueur von Moskau, Fürst Dvlgorukow,
ein Mann vo" dem höchsten Geschlechtsadel, ein Liebling von Zar und Volk,
von einem Eiseubahuiuilliouär jüdischen Stammes in jüdischem Interesse erreicht
worden zu sein. Und wie die Dinge bellte stehen, sind die jüdischen Interessen
wohl noch größerer Opfer wert, mis vor zehn und zwanzig Jahren. Es handelt
sich ja fast um das Dasein von einigen Millionen Menschen, es ist eine Ver¬
teidigung des Lebens.

Es scheint wirklich die Absicht der russischen Staatsregierung zu sein, die
Juden, die sich besonders seit dem Ban der Eisenbahnen trotz entgegenstehender
Gesetze und Verordnungen in allen russischen Städten niedergelassen haben, zu
verjagen und in den ihnen gesetzlich freistehenden altvvlnischcn Provinzen ein¬
zugrenzen. Es würde so ein Staatsghetto gebildet werden, das ans allen
Städten und einigen Flecken des Westens bestehen würde. Denn auch hier
im Weste" durften die Juden außerhalb dieser bestimmten Ortschaften gesetzlich
bisher nicht wohnen; vom flachen Lande wurden sie seit Jahren durch alle
möglichen Verordnungen entfernt, die besonders in dem Verbot bestanden, gewisse
Gewerbe zu betreiben und Landbesitz zu erwerben. In die Städte zusammen¬
gedrängt in einer Zeit, wo ohnehin der Niedergang der Landwirtschaft dem
handeltreibenden Juden die Nahrung sehr verdünnt hat, müssen sie fürchter¬
lichen Notstände" entgegengehen. Gegenwärtig ist die Armut uuter deu Jude"
in diese" Provinzen bereits so groß geworden, daß sie zu Tausenden und
Zehntausenden uach Amerika gehen: der letzte Groschen wird zur Überfahrt
verwandt. "Gott sei Dank, es ist a bissel schütterer geworden " sagte der
Jude, als die Auswanderung eben angefangen hatte; die Nachbleibenden waren
"schütterer," undichter geworden und kounte" sich besser ernähren, weil weniger
Konkurrenz dawar. Aber seitdem ist das Land verarmt, der Bauer hat nichts,
der Herr wenig, und auch die nachgebliebenen von den Juden fristen kaum
das Leben. Was wird werden, wenn ans Rußland die Ausgewiesenen hinzu¬
kommen und diese Jndenstädte Überfüllen? Denn der Jude ist nun einmal
kein Handarbeiter, und selbst wenn er es werden wollte, fände er in diesen
Städten ohne Industrie keinen Erlverb. Bei dem heutigen Verkehrswesen
könnte aber auch der Handel nicht gedeihen, wenn er ans diese Jndenstädte be¬
schränkt wäre; much der Handel wäre den" Juden also schwer gelähmt, es
bliebe ihm nur der kleine Lokalhandel offen. Die gegenwärtige Verarmung
der christlichen Bevölkerung gestattet dafür ein sehr beschränktes Feld des Er¬
werbes. Auswanderung wäre das znnächstliegende. Bis jetzt aber hindert
die russische Regierung den Juden auch an dieser letzte" Rettung; statt die
Augen zuzudrücken, wen" die Leute auswandern wolle", ohne sich vorher cuieu


Rothschild und Rußland

der große nationale Führer Katkow seinen jährlichen Tribut von den Juden
bezog, dafür daß er sie in seiner „Moskaner Zeitung" ungeschoren ließ. Ganz
neuerdings scheint sogar einer der höchsten Würdenträger des Zarenreiches,
der eben zurückgetretene Geueralgouverueur von Moskau, Fürst Dvlgorukow,
ein Mann vo» dem höchsten Geschlechtsadel, ein Liebling von Zar und Volk,
von einem Eiseubahuiuilliouär jüdischen Stammes in jüdischem Interesse erreicht
worden zu sein. Und wie die Dinge bellte stehen, sind die jüdischen Interessen
wohl noch größerer Opfer wert, mis vor zehn und zwanzig Jahren. Es handelt
sich ja fast um das Dasein von einigen Millionen Menschen, es ist eine Ver¬
teidigung des Lebens.

Es scheint wirklich die Absicht der russischen Staatsregierung zu sein, die
Juden, die sich besonders seit dem Ban der Eisenbahnen trotz entgegenstehender
Gesetze und Verordnungen in allen russischen Städten niedergelassen haben, zu
verjagen und in den ihnen gesetzlich freistehenden altvvlnischcn Provinzen ein¬
zugrenzen. Es würde so ein Staatsghetto gebildet werden, das ans allen
Städten und einigen Flecken des Westens bestehen würde. Denn auch hier
im Weste» durften die Juden außerhalb dieser bestimmten Ortschaften gesetzlich
bisher nicht wohnen; vom flachen Lande wurden sie seit Jahren durch alle
möglichen Verordnungen entfernt, die besonders in dem Verbot bestanden, gewisse
Gewerbe zu betreiben und Landbesitz zu erwerben. In die Städte zusammen¬
gedrängt in einer Zeit, wo ohnehin der Niedergang der Landwirtschaft dem
handeltreibenden Juden die Nahrung sehr verdünnt hat, müssen sie fürchter¬
lichen Notstände» entgegengehen. Gegenwärtig ist die Armut uuter deu Jude»
in diese» Provinzen bereits so groß geworden, daß sie zu Tausenden und
Zehntausenden uach Amerika gehen: der letzte Groschen wird zur Überfahrt
verwandt. „Gott sei Dank, es ist a bissel schütterer geworden " sagte der
Jude, als die Auswanderung eben angefangen hatte; die Nachbleibenden waren
„schütterer," undichter geworden und kounte» sich besser ernähren, weil weniger
Konkurrenz dawar. Aber seitdem ist das Land verarmt, der Bauer hat nichts,
der Herr wenig, und auch die nachgebliebenen von den Juden fristen kaum
das Leben. Was wird werden, wenn ans Rußland die Ausgewiesenen hinzu¬
kommen und diese Jndenstädte Überfüllen? Denn der Jude ist nun einmal
kein Handarbeiter, und selbst wenn er es werden wollte, fände er in diesen
Städten ohne Industrie keinen Erlverb. Bei dem heutigen Verkehrswesen
könnte aber auch der Handel nicht gedeihen, wenn er ans diese Jndenstädte be¬
schränkt wäre; much der Handel wäre den« Juden also schwer gelähmt, es
bliebe ihm nur der kleine Lokalhandel offen. Die gegenwärtige Verarmung
der christlichen Bevölkerung gestattet dafür ein sehr beschränktes Feld des Er¬
werbes. Auswanderung wäre das znnächstliegende. Bis jetzt aber hindert
die russische Regierung den Juden auch an dieser letzte» Rettung; statt die
Augen zuzudrücken, wen» die Leute auswandern wolle», ohne sich vorher cuieu


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[0454] Rothschild und Rußland der große nationale Führer Katkow seinen jährlichen Tribut von den Juden bezog, dafür daß er sie in seiner „Moskaner Zeitung" ungeschoren ließ. Ganz neuerdings scheint sogar einer der höchsten Würdenträger des Zarenreiches, der eben zurückgetretene Geueralgouverueur von Moskau, Fürst Dvlgorukow, ein Mann vo» dem höchsten Geschlechtsadel, ein Liebling von Zar und Volk, von einem Eiseubahuiuilliouär jüdischen Stammes in jüdischem Interesse erreicht worden zu sein. Und wie die Dinge bellte stehen, sind die jüdischen Interessen wohl noch größerer Opfer wert, mis vor zehn und zwanzig Jahren. Es handelt sich ja fast um das Dasein von einigen Millionen Menschen, es ist eine Ver¬ teidigung des Lebens. Es scheint wirklich die Absicht der russischen Staatsregierung zu sein, die Juden, die sich besonders seit dem Ban der Eisenbahnen trotz entgegenstehender Gesetze und Verordnungen in allen russischen Städten niedergelassen haben, zu verjagen und in den ihnen gesetzlich freistehenden altvvlnischcn Provinzen ein¬ zugrenzen. Es würde so ein Staatsghetto gebildet werden, das ans allen Städten und einigen Flecken des Westens bestehen würde. Denn auch hier im Weste» durften die Juden außerhalb dieser bestimmten Ortschaften gesetzlich bisher nicht wohnen; vom flachen Lande wurden sie seit Jahren durch alle möglichen Verordnungen entfernt, die besonders in dem Verbot bestanden, gewisse Gewerbe zu betreiben und Landbesitz zu erwerben. In die Städte zusammen¬ gedrängt in einer Zeit, wo ohnehin der Niedergang der Landwirtschaft dem handeltreibenden Juden die Nahrung sehr verdünnt hat, müssen sie fürchter¬ lichen Notstände» entgegengehen. Gegenwärtig ist die Armut uuter deu Jude» in diese» Provinzen bereits so groß geworden, daß sie zu Tausenden und Zehntausenden uach Amerika gehen: der letzte Groschen wird zur Überfahrt verwandt. „Gott sei Dank, es ist a bissel schütterer geworden " sagte der Jude, als die Auswanderung eben angefangen hatte; die Nachbleibenden waren „schütterer," undichter geworden und kounte» sich besser ernähren, weil weniger Konkurrenz dawar. Aber seitdem ist das Land verarmt, der Bauer hat nichts, der Herr wenig, und auch die nachgebliebenen von den Juden fristen kaum das Leben. Was wird werden, wenn ans Rußland die Ausgewiesenen hinzu¬ kommen und diese Jndenstädte Überfüllen? Denn der Jude ist nun einmal kein Handarbeiter, und selbst wenn er es werden wollte, fände er in diesen Städten ohne Industrie keinen Erlverb. Bei dem heutigen Verkehrswesen könnte aber auch der Handel nicht gedeihen, wenn er ans diese Jndenstädte be¬ schränkt wäre; much der Handel wäre den« Juden also schwer gelähmt, es bliebe ihm nur der kleine Lokalhandel offen. Die gegenwärtige Verarmung der christlichen Bevölkerung gestattet dafür ein sehr beschränktes Feld des Er¬ werbes. Auswanderung wäre das znnächstliegende. Bis jetzt aber hindert die russische Regierung den Juden auch an dieser letzte» Rettung; statt die Augen zuzudrücken, wen» die Leute auswandern wolle», ohne sich vorher cuieu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/454>, abgerufen am 04.07.2024.