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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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vrama und Publikum

stets das Rückgrat abgeben muß, schmilzt mehr und mehr zusammen, ja einzelne
Bühnen verschmähen es sogar, einen solchen Stamm zu halten oder heranzu-
ziehen. Statt dessen drängt sich in die Hallen, die meist keine alte Über¬
lieferung weiht, eine buntgemcngte, täglich neu zusammengesetzte, in ihren
Neigungen und Bedürfnissen völlig unberechenbare Schar, die ebensowenig mit
dem Hause irgend eine feinere Beziehung geistiger Art verknüpft wie mit dem
Darsteller oder dem Dichter. Die Dichtung ist heimatlos geworden, ebenso
der Darsteller. Die Gastreisen unsrer Schauspieler und Sänger nach dem
gelobten Lande des Dollars sind ein Zeichen dieser Heimatlosigkeit. Wer mir
irgend etwas Hervorragendes zu leisten meint, hofft, von jedem Verbände gelöst,
in der weiten Welt erst recht zur Geltung zu kommen, und verliert dann in
künstlerischer Hinsicht, anstatt zu gewinnen. Doch das nebenbei. Dieses
moderne Publikum aber, ohne Interesse für das Institut selbst, will für den
Abend für sein Geld unterhalten sein. Wird dieser Wunsch befriedigt, so
kümmert es das Gestern oder Morgen wenig. Es verlangt von dem Dichter
des Abends nichts als die Erfüllung dieses Wunsches, und zwar um jeden
Preis. Die Mittel sind ihm gleichgiltig, wenn sie ihm mir uicht unbequem
sind, d. h. tief greifen, Nachdenken erfordern oder unmittelbar den landläufigen
Begriff der Sittlichkeit verletzen. Alles andre ist erlaubt. Und was für
Klassen sind es, die das Theater besuchen, wenigstens in den großen Städten?
Die Zahlungsfähigen, ein Begriff, der bekanntlich mit dem der Gebildeten
nicht zu verwechseln ist. Die Eintrittspreise haben sich dank einer alles Maß
und Ziel überschreitenden Vezcchlnng der darstellenden Kräfte -- ein Übelstand,
der in erster Reihe dem verderblichen Beispiel der Oper zu danken ist --
immer mehr gesteigert, sodaß ein Besuch des Theaters, zumal für Familien,
zu einer Luxusausgabe geworden ist. Weite Kreise der Gebildeten, der Beamten-
und der Lehrerstand z. B., sind, zumal bei dem grellen Widerspruch zwischen
Standesrücksichten und Einkommen, von dem Besuch des Schauspiels so gut
wie abgeschlossen. Ans diesem Wege ist unser Theater immer mehr zu einer
Anstalt des Geldadels geworden, statt ein Sammelpunkt des geistigen Adels
zu sein. Kenner des sogenannten "Premieren"-Publikums wissen das nur zu
genan, in erster Reihe die schaffenden Routiniers des Bühnenerfolges.

Noch trauriger aber wird das Bild bei einem Blick auf das Publikum,
das jetzt leider als tonangebend in Theaterfragcn wirkt und gern als
solches angesehen werden möchte, das Publikum der Reichshauptstadt. Der
Traum der Berliner, der einen großen Teil von ihnen begeistert, für Deutsch¬
land ein Paris zu werden, ist auf keinem Wege der Erfüllung so nahe, als
auf dem der dramatischen Litteratur, und was das für unser geistiges Volks¬
leben und für das Drama bedeutet, sehen wir nur zu deutlich. Es hat immer
etwas Mißliches, über ein Publikum oder eine Klasse des Publikums schlechthin
abzuurteilen; ohne dabei den Einzelnen ungerecht zu treffen, wird es kaum ab-


vrama und Publikum

stets das Rückgrat abgeben muß, schmilzt mehr und mehr zusammen, ja einzelne
Bühnen verschmähen es sogar, einen solchen Stamm zu halten oder heranzu-
ziehen. Statt dessen drängt sich in die Hallen, die meist keine alte Über¬
lieferung weiht, eine buntgemcngte, täglich neu zusammengesetzte, in ihren
Neigungen und Bedürfnissen völlig unberechenbare Schar, die ebensowenig mit
dem Hause irgend eine feinere Beziehung geistiger Art verknüpft wie mit dem
Darsteller oder dem Dichter. Die Dichtung ist heimatlos geworden, ebenso
der Darsteller. Die Gastreisen unsrer Schauspieler und Sänger nach dem
gelobten Lande des Dollars sind ein Zeichen dieser Heimatlosigkeit. Wer mir
irgend etwas Hervorragendes zu leisten meint, hofft, von jedem Verbände gelöst,
in der weiten Welt erst recht zur Geltung zu kommen, und verliert dann in
künstlerischer Hinsicht, anstatt zu gewinnen. Doch das nebenbei. Dieses
moderne Publikum aber, ohne Interesse für das Institut selbst, will für den
Abend für sein Geld unterhalten sein. Wird dieser Wunsch befriedigt, so
kümmert es das Gestern oder Morgen wenig. Es verlangt von dem Dichter
des Abends nichts als die Erfüllung dieses Wunsches, und zwar um jeden
Preis. Die Mittel sind ihm gleichgiltig, wenn sie ihm mir uicht unbequem
sind, d. h. tief greifen, Nachdenken erfordern oder unmittelbar den landläufigen
Begriff der Sittlichkeit verletzen. Alles andre ist erlaubt. Und was für
Klassen sind es, die das Theater besuchen, wenigstens in den großen Städten?
Die Zahlungsfähigen, ein Begriff, der bekanntlich mit dem der Gebildeten
nicht zu verwechseln ist. Die Eintrittspreise haben sich dank einer alles Maß
und Ziel überschreitenden Vezcchlnng der darstellenden Kräfte — ein Übelstand,
der in erster Reihe dem verderblichen Beispiel der Oper zu danken ist —
immer mehr gesteigert, sodaß ein Besuch des Theaters, zumal für Familien,
zu einer Luxusausgabe geworden ist. Weite Kreise der Gebildeten, der Beamten-
und der Lehrerstand z. B., sind, zumal bei dem grellen Widerspruch zwischen
Standesrücksichten und Einkommen, von dem Besuch des Schauspiels so gut
wie abgeschlossen. Ans diesem Wege ist unser Theater immer mehr zu einer
Anstalt des Geldadels geworden, statt ein Sammelpunkt des geistigen Adels
zu sein. Kenner des sogenannten „Premieren"-Publikums wissen das nur zu
genan, in erster Reihe die schaffenden Routiniers des Bühnenerfolges.

Noch trauriger aber wird das Bild bei einem Blick auf das Publikum,
das jetzt leider als tonangebend in Theaterfragcn wirkt und gern als
solches angesehen werden möchte, das Publikum der Reichshauptstadt. Der
Traum der Berliner, der einen großen Teil von ihnen begeistert, für Deutsch¬
land ein Paris zu werden, ist auf keinem Wege der Erfüllung so nahe, als
auf dem der dramatischen Litteratur, und was das für unser geistiges Volks¬
leben und für das Drama bedeutet, sehen wir nur zu deutlich. Es hat immer
etwas Mißliches, über ein Publikum oder eine Klasse des Publikums schlechthin
abzuurteilen; ohne dabei den Einzelnen ungerecht zu treffen, wird es kaum ab-


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[0436] vrama und Publikum stets das Rückgrat abgeben muß, schmilzt mehr und mehr zusammen, ja einzelne Bühnen verschmähen es sogar, einen solchen Stamm zu halten oder heranzu- ziehen. Statt dessen drängt sich in die Hallen, die meist keine alte Über¬ lieferung weiht, eine buntgemcngte, täglich neu zusammengesetzte, in ihren Neigungen und Bedürfnissen völlig unberechenbare Schar, die ebensowenig mit dem Hause irgend eine feinere Beziehung geistiger Art verknüpft wie mit dem Darsteller oder dem Dichter. Die Dichtung ist heimatlos geworden, ebenso der Darsteller. Die Gastreisen unsrer Schauspieler und Sänger nach dem gelobten Lande des Dollars sind ein Zeichen dieser Heimatlosigkeit. Wer mir irgend etwas Hervorragendes zu leisten meint, hofft, von jedem Verbände gelöst, in der weiten Welt erst recht zur Geltung zu kommen, und verliert dann in künstlerischer Hinsicht, anstatt zu gewinnen. Doch das nebenbei. Dieses moderne Publikum aber, ohne Interesse für das Institut selbst, will für den Abend für sein Geld unterhalten sein. Wird dieser Wunsch befriedigt, so kümmert es das Gestern oder Morgen wenig. Es verlangt von dem Dichter des Abends nichts als die Erfüllung dieses Wunsches, und zwar um jeden Preis. Die Mittel sind ihm gleichgiltig, wenn sie ihm mir uicht unbequem sind, d. h. tief greifen, Nachdenken erfordern oder unmittelbar den landläufigen Begriff der Sittlichkeit verletzen. Alles andre ist erlaubt. Und was für Klassen sind es, die das Theater besuchen, wenigstens in den großen Städten? Die Zahlungsfähigen, ein Begriff, der bekanntlich mit dem der Gebildeten nicht zu verwechseln ist. Die Eintrittspreise haben sich dank einer alles Maß und Ziel überschreitenden Vezcchlnng der darstellenden Kräfte — ein Übelstand, der in erster Reihe dem verderblichen Beispiel der Oper zu danken ist — immer mehr gesteigert, sodaß ein Besuch des Theaters, zumal für Familien, zu einer Luxusausgabe geworden ist. Weite Kreise der Gebildeten, der Beamten- und der Lehrerstand z. B., sind, zumal bei dem grellen Widerspruch zwischen Standesrücksichten und Einkommen, von dem Besuch des Schauspiels so gut wie abgeschlossen. Ans diesem Wege ist unser Theater immer mehr zu einer Anstalt des Geldadels geworden, statt ein Sammelpunkt des geistigen Adels zu sein. Kenner des sogenannten „Premieren"-Publikums wissen das nur zu genan, in erster Reihe die schaffenden Routiniers des Bühnenerfolges. Noch trauriger aber wird das Bild bei einem Blick auf das Publikum, das jetzt leider als tonangebend in Theaterfragcn wirkt und gern als solches angesehen werden möchte, das Publikum der Reichshauptstadt. Der Traum der Berliner, der einen großen Teil von ihnen begeistert, für Deutsch¬ land ein Paris zu werden, ist auf keinem Wege der Erfüllung so nahe, als auf dem der dramatischen Litteratur, und was das für unser geistiges Volks¬ leben und für das Drama bedeutet, sehen wir nur zu deutlich. Es hat immer etwas Mißliches, über ein Publikum oder eine Klasse des Publikums schlechthin abzuurteilen; ohne dabei den Einzelnen ungerecht zu treffen, wird es kaum ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/436>, abgerufen am 24.07.2024.