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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das gleiche Wahlrecht

rasenden Menge mit "freundlichem Zureden" zu pnriren. Die solche Reden
führen und durch diese aufs neue anstacheln, sind offenbar die von Herrn
Virchow erfundenen "guten Revolutionäre," die allerdings nnr im bildlichen
Sinne Minen graben, und zwar unter dem Schutze der Redefreiheit. Wohl
haben sie die Ahnung, daß sie sich im äußersten Falle nicht zu sehr auf diesen
Schutz verlassen dürften, darum wird, wo sie eruste Entschlossenheit sehen, der
Aufstand, der zu bald zum Aufstand wird, "wegen ungünstiger Witterung"
abgesagt. Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn sich endlich die Welt voll
Empörung und Ekel von diesem frevelhaftem Spiele mit deu Volksleidenschaftcn
abwendet und, wiederum das Kind mit dem Bade verschüttend, nach dein
aufgeklärten Despotismus lechzt.

Wir alle dürfen offen eingestehen, daß auch wir uns über den praktischen
Wert des allgemeinen gleichen Stimmrechts getäuscht haben. Die im Jahre
1848 damit angestellte Probe zeugte, wenn mau die Dinge vorurteilsfrei be¬
trachtet, nicht gegen das Prinzip. Man durfte hoffen, daß die phantastischen
Vorstellungen von den Aufgaben des Staates und den Mitteln zu ihrer Lösung,
Vorstellungen, wie sie damals nicht ausschließlich in der großen Menge be¬
standen hatten, sich mittlerweile geklärt haben würden und praktischer Verstand
den einstigen jugendlichen Schwung ersetze" werde. Die Einschränkung des
Wahlrechtes galt durchweg als ein charakteristisches Zeichen der Reaktion, und
Bismarck verlieh uur der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, als er eine
Volksvertretung aus allgemeinen Wahlen als unumgängliche Bedingung für
eine Reform der Bundesverfassung aufstellte. In wie geringem Grade sich die
noch 1871 gehegten Erwartungen erfüllt haben, ist nnr zu bekannt. Hatte
mau selbst in gebildeten Kreisen in den letzten zwei Jahrzehnten Politisch wenig
gelernt, so griffen in den untern Schichten chimärische Lehren, durch die Vater-
laudsgefühl und Staatsbewußtsein untergraben werden mußten, mit reißender
Schnelligkeit um sich. Heute steht es so, daß Millionen von Deutschen allem
Bestehenden, aller menschlichen Ordnung offen den Krieg erklären, bereit sind,
mit allen Feinden des Deutschtums gemeinsame Sache zu machen. Der Kampf,
der 1848 und später um die politische Macht geführt wurde, ist nun um deu
Bestand der Gesellschaft entbrannt; die sich Unterdrückte nennen, Wollen nicht
die Aufhebung des Druckes, sondern planen eine viel gewaltlhätigere Unter-
drückung aller, die Volksvertretung ist uicht die Bürgschaft friedlicher Ent¬
wicklung mehr, fondern wird umgekehrt zum Mittelpunkte der revolutionären
Agitation.

Über diese Lage der Dinge giebt sich schwerlich jemand einer Täuschung
hin, die eiuen erkennen sie mit schwerer Sorge, die andern hoffnungsfroh.
Was ist dabei zu thun? Eine abermalige Beschränkung des Wahlrechtes auf
gewisse Bevölkerungsklassen, die sich durch Stellung, Bildung, Besitz oder
sonstwie über die große Masse des Proletariats erheben, könnte niemand be-


Das gleiche Wahlrecht

rasenden Menge mit „freundlichem Zureden" zu pnriren. Die solche Reden
führen und durch diese aufs neue anstacheln, sind offenbar die von Herrn
Virchow erfundenen „guten Revolutionäre," die allerdings nnr im bildlichen
Sinne Minen graben, und zwar unter dem Schutze der Redefreiheit. Wohl
haben sie die Ahnung, daß sie sich im äußersten Falle nicht zu sehr auf diesen
Schutz verlassen dürften, darum wird, wo sie eruste Entschlossenheit sehen, der
Aufstand, der zu bald zum Aufstand wird, „wegen ungünstiger Witterung"
abgesagt. Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn sich endlich die Welt voll
Empörung und Ekel von diesem frevelhaftem Spiele mit deu Volksleidenschaftcn
abwendet und, wiederum das Kind mit dem Bade verschüttend, nach dein
aufgeklärten Despotismus lechzt.

Wir alle dürfen offen eingestehen, daß auch wir uns über den praktischen
Wert des allgemeinen gleichen Stimmrechts getäuscht haben. Die im Jahre
1848 damit angestellte Probe zeugte, wenn mau die Dinge vorurteilsfrei be¬
trachtet, nicht gegen das Prinzip. Man durfte hoffen, daß die phantastischen
Vorstellungen von den Aufgaben des Staates und den Mitteln zu ihrer Lösung,
Vorstellungen, wie sie damals nicht ausschließlich in der großen Menge be¬
standen hatten, sich mittlerweile geklärt haben würden und praktischer Verstand
den einstigen jugendlichen Schwung ersetze» werde. Die Einschränkung des
Wahlrechtes galt durchweg als ein charakteristisches Zeichen der Reaktion, und
Bismarck verlieh uur der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, als er eine
Volksvertretung aus allgemeinen Wahlen als unumgängliche Bedingung für
eine Reform der Bundesverfassung aufstellte. In wie geringem Grade sich die
noch 1871 gehegten Erwartungen erfüllt haben, ist nnr zu bekannt. Hatte
mau selbst in gebildeten Kreisen in den letzten zwei Jahrzehnten Politisch wenig
gelernt, so griffen in den untern Schichten chimärische Lehren, durch die Vater-
laudsgefühl und Staatsbewußtsein untergraben werden mußten, mit reißender
Schnelligkeit um sich. Heute steht es so, daß Millionen von Deutschen allem
Bestehenden, aller menschlichen Ordnung offen den Krieg erklären, bereit sind,
mit allen Feinden des Deutschtums gemeinsame Sache zu machen. Der Kampf,
der 1848 und später um die politische Macht geführt wurde, ist nun um deu
Bestand der Gesellschaft entbrannt; die sich Unterdrückte nennen, Wollen nicht
die Aufhebung des Druckes, sondern planen eine viel gewaltlhätigere Unter-
drückung aller, die Volksvertretung ist uicht die Bürgschaft friedlicher Ent¬
wicklung mehr, fondern wird umgekehrt zum Mittelpunkte der revolutionären
Agitation.

Über diese Lage der Dinge giebt sich schwerlich jemand einer Täuschung
hin, die eiuen erkennen sie mit schwerer Sorge, die andern hoffnungsfroh.
Was ist dabei zu thun? Eine abermalige Beschränkung des Wahlrechtes auf
gewisse Bevölkerungsklassen, die sich durch Stellung, Bildung, Besitz oder
sonstwie über die große Masse des Proletariats erheben, könnte niemand be-


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[0360] Das gleiche Wahlrecht rasenden Menge mit „freundlichem Zureden" zu pnriren. Die solche Reden führen und durch diese aufs neue anstacheln, sind offenbar die von Herrn Virchow erfundenen „guten Revolutionäre," die allerdings nnr im bildlichen Sinne Minen graben, und zwar unter dem Schutze der Redefreiheit. Wohl haben sie die Ahnung, daß sie sich im äußersten Falle nicht zu sehr auf diesen Schutz verlassen dürften, darum wird, wo sie eruste Entschlossenheit sehen, der Aufstand, der zu bald zum Aufstand wird, „wegen ungünstiger Witterung" abgesagt. Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn sich endlich die Welt voll Empörung und Ekel von diesem frevelhaftem Spiele mit deu Volksleidenschaftcn abwendet und, wiederum das Kind mit dem Bade verschüttend, nach dein aufgeklärten Despotismus lechzt. Wir alle dürfen offen eingestehen, daß auch wir uns über den praktischen Wert des allgemeinen gleichen Stimmrechts getäuscht haben. Die im Jahre 1848 damit angestellte Probe zeugte, wenn mau die Dinge vorurteilsfrei be¬ trachtet, nicht gegen das Prinzip. Man durfte hoffen, daß die phantastischen Vorstellungen von den Aufgaben des Staates und den Mitteln zu ihrer Lösung, Vorstellungen, wie sie damals nicht ausschließlich in der großen Menge be¬ standen hatten, sich mittlerweile geklärt haben würden und praktischer Verstand den einstigen jugendlichen Schwung ersetze» werde. Die Einschränkung des Wahlrechtes galt durchweg als ein charakteristisches Zeichen der Reaktion, und Bismarck verlieh uur der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, als er eine Volksvertretung aus allgemeinen Wahlen als unumgängliche Bedingung für eine Reform der Bundesverfassung aufstellte. In wie geringem Grade sich die noch 1871 gehegten Erwartungen erfüllt haben, ist nnr zu bekannt. Hatte mau selbst in gebildeten Kreisen in den letzten zwei Jahrzehnten Politisch wenig gelernt, so griffen in den untern Schichten chimärische Lehren, durch die Vater- laudsgefühl und Staatsbewußtsein untergraben werden mußten, mit reißender Schnelligkeit um sich. Heute steht es so, daß Millionen von Deutschen allem Bestehenden, aller menschlichen Ordnung offen den Krieg erklären, bereit sind, mit allen Feinden des Deutschtums gemeinsame Sache zu machen. Der Kampf, der 1848 und später um die politische Macht geführt wurde, ist nun um deu Bestand der Gesellschaft entbrannt; die sich Unterdrückte nennen, Wollen nicht die Aufhebung des Druckes, sondern planen eine viel gewaltlhätigere Unter- drückung aller, die Volksvertretung ist uicht die Bürgschaft friedlicher Ent¬ wicklung mehr, fondern wird umgekehrt zum Mittelpunkte der revolutionären Agitation. Über diese Lage der Dinge giebt sich schwerlich jemand einer Täuschung hin, die eiuen erkennen sie mit schwerer Sorge, die andern hoffnungsfroh. Was ist dabei zu thun? Eine abermalige Beschränkung des Wahlrechtes auf gewisse Bevölkerungsklassen, die sich durch Stellung, Bildung, Besitz oder sonstwie über die große Masse des Proletariats erheben, könnte niemand be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/360>, abgerufen am 24.07.2024.