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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Schopenhauer leäivivu-,

Schönheit und für die bildenden Künste, oder das Ehrgefühl, oder das Mitleid
fehlt. Aber das Recht haben jene geistigen Krüppel nicht, das Vorhandensein
des Triebes in andern zu bestreiten und sie, wenn sie ihm nachgeben, der
Fälschung von Bewußtseinserscheinungeu anzuklagen. Allenfalls könnte man
die Richtung des Kausalitätstriebes auf das "Ding an sich" und ans die
Grundursache von der auf die Reihenfolge der Erscheinungen sondern und als
fünfte Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde bezeichne". In dieser
Gestalt müßte er dann der Satz vom zureichenden Grunde des Seins genannt
werden. Sehr schlau und mit einem des wahrheitsliebenden Philosophen un¬
würdigen Strategem hat Schopenhauer diese Beuemumg für die gegenseitige
Abhängigkeit der Raum- und Zahlengrößen vou einander mit Beschlag belegt,
obwohl dafür besser die Bezeichnung passen würde: Gesetz des zureichenden
Grundes des Soseins (des Grundes z. B., warum dieses Dreieck gerade stumpf-
winklig und nicht spitzwinklig ist).

Übrigens widerlegt sich Schopenhauer selbst in den oben angeführten
Sätzen. Ein eigentliches Entstehen, ein Jnsdaseintreten des vorher gar nicht
Gewesenen soll unmöglich sein. Gut! Dann ist nach Schopenhauers Annahme
der bewußte Geist eine Unmöglichkeit. Denn wenn ursprünglich nichts dawar,
als die bewußte Materie, so ist mit dem bewußten Geiste etwas völlig Neues
ins Dnsein getreten. Lassen wir es vorläufig dahingestellt sein, ob Schopen¬
hauers "Wille," jene bewußtlos und doch planvoll schaffende Kraft, die alle
Erscheinungen hervorgebracht haben soll, denkbar sei, aber daß zu diesem
"Willen" mit der "Vorstellung," mit der bewußten Erkenntnis, etwas völlig
Neues, vorher nicht Dagewesenes hinzukommt, das ist doch wohl unbestreitbar?

Und wie Schopenhauer seine schöne Untersuchung des Gesetzes vom zu¬
reichenden Grunde durch das atheistische Vorurteil verdirbt, so auch die bereits
erwähnte schöne Entdeckung, daß es in der Welt gar keine andre Kraft gebe
und geben könne als den Willen. Unser eigner Wille ist die einzige Kraft,
die wir kennen; was in unserm Geiste vorgeht, wenn wir unsre Glieder be¬
wegen, oder mit der Hand einen Billardball stoßen, das wissen wir; von der
Wirkungsweise andrer Kräfte dagegen haben wir keine Vorstellung. Anziehung,
chemische Verwandtschaft, Elektrizität sind weiter nichts als Wörter, in denen
wir je eine Erscheinungsgruppe zusammenfassen, die ihr eignes Gesetz der
Aufeinanderfolge hat. Die Ursache der Erscheinungen und ihrer Aufeinander¬
folge wird weder durch jene Namen noch durch dieses Gesetz, durch die Regel
erklärt. Wollen wir eine Erklärung haben, wollen wir uns die Vorgänge
verständlich machen, so bleibt nichts weiter übrig, als einen dem unsrigen
ähnlichen aber weit überlegnen bewußten Willen anzunehmen, der die mannich-
fachen in der Welt vorkommenden Bewegungen hervorruft und ordnet, wie
wir das Rollen der Billardbälle oder den Gang einer Maschine ordnen.
Indem aber Schopenhauer diesen höchsten bewußten Willen hartnäckig leugnet


Schopenhauer leäivivu-,

Schönheit und für die bildenden Künste, oder das Ehrgefühl, oder das Mitleid
fehlt. Aber das Recht haben jene geistigen Krüppel nicht, das Vorhandensein
des Triebes in andern zu bestreiten und sie, wenn sie ihm nachgeben, der
Fälschung von Bewußtseinserscheinungeu anzuklagen. Allenfalls könnte man
die Richtung des Kausalitätstriebes auf das „Ding an sich" und ans die
Grundursache von der auf die Reihenfolge der Erscheinungen sondern und als
fünfte Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde bezeichne«. In dieser
Gestalt müßte er dann der Satz vom zureichenden Grunde des Seins genannt
werden. Sehr schlau und mit einem des wahrheitsliebenden Philosophen un¬
würdigen Strategem hat Schopenhauer diese Beuemumg für die gegenseitige
Abhängigkeit der Raum- und Zahlengrößen vou einander mit Beschlag belegt,
obwohl dafür besser die Bezeichnung passen würde: Gesetz des zureichenden
Grundes des Soseins (des Grundes z. B., warum dieses Dreieck gerade stumpf-
winklig und nicht spitzwinklig ist).

Übrigens widerlegt sich Schopenhauer selbst in den oben angeführten
Sätzen. Ein eigentliches Entstehen, ein Jnsdaseintreten des vorher gar nicht
Gewesenen soll unmöglich sein. Gut! Dann ist nach Schopenhauers Annahme
der bewußte Geist eine Unmöglichkeit. Denn wenn ursprünglich nichts dawar,
als die bewußte Materie, so ist mit dem bewußten Geiste etwas völlig Neues
ins Dnsein getreten. Lassen wir es vorläufig dahingestellt sein, ob Schopen¬
hauers „Wille," jene bewußtlos und doch planvoll schaffende Kraft, die alle
Erscheinungen hervorgebracht haben soll, denkbar sei, aber daß zu diesem
„Willen" mit der „Vorstellung," mit der bewußten Erkenntnis, etwas völlig
Neues, vorher nicht Dagewesenes hinzukommt, das ist doch wohl unbestreitbar?

Und wie Schopenhauer seine schöne Untersuchung des Gesetzes vom zu¬
reichenden Grunde durch das atheistische Vorurteil verdirbt, so auch die bereits
erwähnte schöne Entdeckung, daß es in der Welt gar keine andre Kraft gebe
und geben könne als den Willen. Unser eigner Wille ist die einzige Kraft,
die wir kennen; was in unserm Geiste vorgeht, wenn wir unsre Glieder be¬
wegen, oder mit der Hand einen Billardball stoßen, das wissen wir; von der
Wirkungsweise andrer Kräfte dagegen haben wir keine Vorstellung. Anziehung,
chemische Verwandtschaft, Elektrizität sind weiter nichts als Wörter, in denen
wir je eine Erscheinungsgruppe zusammenfassen, die ihr eignes Gesetz der
Aufeinanderfolge hat. Die Ursache der Erscheinungen und ihrer Aufeinander¬
folge wird weder durch jene Namen noch durch dieses Gesetz, durch die Regel
erklärt. Wollen wir eine Erklärung haben, wollen wir uns die Vorgänge
verständlich machen, so bleibt nichts weiter übrig, als einen dem unsrigen
ähnlichen aber weit überlegnen bewußten Willen anzunehmen, der die mannich-
fachen in der Welt vorkommenden Bewegungen hervorruft und ordnet, wie
wir das Rollen der Billardbälle oder den Gang einer Maschine ordnen.
Indem aber Schopenhauer diesen höchsten bewußten Willen hartnäckig leugnet


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[0034] Schopenhauer leäivivu-, Schönheit und für die bildenden Künste, oder das Ehrgefühl, oder das Mitleid fehlt. Aber das Recht haben jene geistigen Krüppel nicht, das Vorhandensein des Triebes in andern zu bestreiten und sie, wenn sie ihm nachgeben, der Fälschung von Bewußtseinserscheinungeu anzuklagen. Allenfalls könnte man die Richtung des Kausalitätstriebes auf das „Ding an sich" und ans die Grundursache von der auf die Reihenfolge der Erscheinungen sondern und als fünfte Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde bezeichne«. In dieser Gestalt müßte er dann der Satz vom zureichenden Grunde des Seins genannt werden. Sehr schlau und mit einem des wahrheitsliebenden Philosophen un¬ würdigen Strategem hat Schopenhauer diese Beuemumg für die gegenseitige Abhängigkeit der Raum- und Zahlengrößen vou einander mit Beschlag belegt, obwohl dafür besser die Bezeichnung passen würde: Gesetz des zureichenden Grundes des Soseins (des Grundes z. B., warum dieses Dreieck gerade stumpf- winklig und nicht spitzwinklig ist). Übrigens widerlegt sich Schopenhauer selbst in den oben angeführten Sätzen. Ein eigentliches Entstehen, ein Jnsdaseintreten des vorher gar nicht Gewesenen soll unmöglich sein. Gut! Dann ist nach Schopenhauers Annahme der bewußte Geist eine Unmöglichkeit. Denn wenn ursprünglich nichts dawar, als die bewußte Materie, so ist mit dem bewußten Geiste etwas völlig Neues ins Dnsein getreten. Lassen wir es vorläufig dahingestellt sein, ob Schopen¬ hauers „Wille," jene bewußtlos und doch planvoll schaffende Kraft, die alle Erscheinungen hervorgebracht haben soll, denkbar sei, aber daß zu diesem „Willen" mit der „Vorstellung," mit der bewußten Erkenntnis, etwas völlig Neues, vorher nicht Dagewesenes hinzukommt, das ist doch wohl unbestreitbar? Und wie Schopenhauer seine schöne Untersuchung des Gesetzes vom zu¬ reichenden Grunde durch das atheistische Vorurteil verdirbt, so auch die bereits erwähnte schöne Entdeckung, daß es in der Welt gar keine andre Kraft gebe und geben könne als den Willen. Unser eigner Wille ist die einzige Kraft, die wir kennen; was in unserm Geiste vorgeht, wenn wir unsre Glieder be¬ wegen, oder mit der Hand einen Billardball stoßen, das wissen wir; von der Wirkungsweise andrer Kräfte dagegen haben wir keine Vorstellung. Anziehung, chemische Verwandtschaft, Elektrizität sind weiter nichts als Wörter, in denen wir je eine Erscheinungsgruppe zusammenfassen, die ihr eignes Gesetz der Aufeinanderfolge hat. Die Ursache der Erscheinungen und ihrer Aufeinander¬ folge wird weder durch jene Namen noch durch dieses Gesetz, durch die Regel erklärt. Wollen wir eine Erklärung haben, wollen wir uns die Vorgänge verständlich machen, so bleibt nichts weiter übrig, als einen dem unsrigen ähnlichen aber weit überlegnen bewußten Willen anzunehmen, der die mannich- fachen in der Welt vorkommenden Bewegungen hervorruft und ordnet, wie wir das Rollen der Billardbälle oder den Gang einer Maschine ordnen. Indem aber Schopenhauer diesen höchsten bewußten Willen hartnäckig leugnet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/34>, abgerufen am 24.07.2024.