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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

All dritter Stelle nach dein Bürgerkriege die solonische Verfassung, von
der die Demokratie ihren Anfang nahm, Viertens die Thrannis unter
Peisistratvs. Fünftens die Verfassung des Kleisthenes, die dem Volke noch
günstiger war als die solonische. Die sechste war die Verfassung nach den
Perserkriegen, als der Areopag die Leitung des Staates hatte. Die siebente
nach dieser war die von Aristeides eingeleitete und von Ephialtes mit dem
Sturze des Nreopags beendete; während der Deiner dieser Verfassung ver¬
leiteten die Nolksftthrer die Bürgerschaft zu vielen Vergehungen der Seeherr-
schaft wegen." Diese Bemerkung über die größte Zeit Athens ist auffallend
und verrät deu Geguer der athenischen Ansprüche ans die griechische Hege¬
monie. "Die achte Verfassung war die Einsetzung der Vierhundert, die neunte
die Wiedereinsetzung der Demokratie, die zehnte die Thrannis der Dreißig und
der Zehn, die elfte die Demokratie nach der Rückkehr der Patrioten von Phyle
und dem Peiraieus, die bis jetzt in Geltung geblieben ist."

Darauf folgt die systematische Beschreibung dieser noch zu Aristoteles Zeit
bestehenden Verfassung, Auch in diesem Teile bereichert die Schrift an vielen
Stellen unsre Kenntnisse und bringt in viel umstrittenen Fragen die Entschei¬
dung. Wir lesen zuerst, wie der junge Athener nach vollendetem achtzehnten
Jahre in die Bürgerlisten eingetragen wurde, wenn die Prüfung seiner Berech¬
tigung günstig abgelaufen war -- es mußten Vater und Mutter von ihm
ätherische Bürger gewesen sein --, und mit wie peinlicher Genauigkeit bei dieser
Prüfung verfahren wurde; wie er daun einexerziert wurde und darauf zwei
Jahre in den Grenzfestungen des Landes Dienst thun mußte. Hieran schließt
sich die Besprechung der Staatsämter, die Art ihrer Besetzung -- dnrch
Losung oder Wahl --, die Befugnisse der Prytaneu, der Volksversammlungen,
wobei die Bestallung und Thätigkeit der Prvedren, die den Vorsitz in den
Volksversammlungen führten, genau bestimmt wird, die Rechte und Pflichten
des Rates, der Gerichtshöfe und einzelnen Richterkollegien, der verschiednen
Finanzbeamten (Tamiai, Poleten, Apodekten), der Archonten, die Geschäfte der
Straßen- und Marktpolizei, der Festvvrsteher, die Wahlen der Feldherren und
der Offiziere beim Fußvolk und der Reiterei u. s. w. Kein andres Werk hat
uns bisher so genau und ausführlich über die Regierung und Verwaltung
Athens unterrichtet.

Die Aristotelische Schrift ist gewiß in erster Linie dem Philologen und dem
Historiker von Wichtigkeit, bietet aber so viel allgemein Interessantes, daß sie
auch weitern Kreisen zu näherer Bekanntschaft empfohlen werden kann. Deutsche
Übersetzungen werden in nächster Zeit erscheinen")




Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

All dritter Stelle nach dein Bürgerkriege die solonische Verfassung, von
der die Demokratie ihren Anfang nahm, Viertens die Thrannis unter
Peisistratvs. Fünftens die Verfassung des Kleisthenes, die dem Volke noch
günstiger war als die solonische. Die sechste war die Verfassung nach den
Perserkriegen, als der Areopag die Leitung des Staates hatte. Die siebente
nach dieser war die von Aristeides eingeleitete und von Ephialtes mit dem
Sturze des Nreopags beendete; während der Deiner dieser Verfassung ver¬
leiteten die Nolksftthrer die Bürgerschaft zu vielen Vergehungen der Seeherr-
schaft wegen." Diese Bemerkung über die größte Zeit Athens ist auffallend
und verrät deu Geguer der athenischen Ansprüche ans die griechische Hege¬
monie. „Die achte Verfassung war die Einsetzung der Vierhundert, die neunte
die Wiedereinsetzung der Demokratie, die zehnte die Thrannis der Dreißig und
der Zehn, die elfte die Demokratie nach der Rückkehr der Patrioten von Phyle
und dem Peiraieus, die bis jetzt in Geltung geblieben ist."

Darauf folgt die systematische Beschreibung dieser noch zu Aristoteles Zeit
bestehenden Verfassung, Auch in diesem Teile bereichert die Schrift an vielen
Stellen unsre Kenntnisse und bringt in viel umstrittenen Fragen die Entschei¬
dung. Wir lesen zuerst, wie der junge Athener nach vollendetem achtzehnten
Jahre in die Bürgerlisten eingetragen wurde, wenn die Prüfung seiner Berech¬
tigung günstig abgelaufen war — es mußten Vater und Mutter von ihm
ätherische Bürger gewesen sein —, und mit wie peinlicher Genauigkeit bei dieser
Prüfung verfahren wurde; wie er daun einexerziert wurde und darauf zwei
Jahre in den Grenzfestungen des Landes Dienst thun mußte. Hieran schließt
sich die Besprechung der Staatsämter, die Art ihrer Besetzung — dnrch
Losung oder Wahl —, die Befugnisse der Prytaneu, der Volksversammlungen,
wobei die Bestallung und Thätigkeit der Prvedren, die den Vorsitz in den
Volksversammlungen führten, genau bestimmt wird, die Rechte und Pflichten
des Rates, der Gerichtshöfe und einzelnen Richterkollegien, der verschiednen
Finanzbeamten (Tamiai, Poleten, Apodekten), der Archonten, die Geschäfte der
Straßen- und Marktpolizei, der Festvvrsteher, die Wahlen der Feldherren und
der Offiziere beim Fußvolk und der Reiterei u. s. w. Kein andres Werk hat
uns bisher so genau und ausführlich über die Regierung und Verwaltung
Athens unterrichtet.

Die Aristotelische Schrift ist gewiß in erster Linie dem Philologen und dem
Historiker von Wichtigkeit, bietet aber so viel allgemein Interessantes, daß sie
auch weitern Kreisen zu näherer Bekanntschaft empfohlen werden kann. Deutsche
Übersetzungen werden in nächster Zeit erscheinen")




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/29>, abgerufen am 24.07.2024.