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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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"Stationen" sagt er: "Sie sind das wertvollste Dokument seines Lebens und
Strebens und der Schlüssel zu seinen Werken." Das wird wohl kumm ein
Kenner der Werke Hamerlings unterschreiben. Denn wenn bei irgend einem
Dichter die Kenntnis seines Lebensganges entbehrlich ist, so ist es bei diesem.
Er hat ja meist historische Stoffe behandelt; er war z. B. stolz darauf, daß
die Westfalen die Wahrheit seiner Schilderung des Landes der roten Erde im
"König von Sion" bewunderten, ohne daß er jemals selbst Münster und
dessen Umgebung mit eignen Augen gesehen hätte. Hamerling ist allerdings
nnr im Zusammenhange mit seiner Zeit und Heimat richtig zu beurteilen, aber
er gehört nicht in die Reihe der Dichter, für die die Biographie der "Schlüssel"
zu ihre" Werken ist. Vermutlich würde er selbst hiergegen protestirt haben.
Ebenso wenig aber wird man Roseggers Werturteil über die "Stationen" unter¬
schreiben können, das lautet: "Nichts schwereres giebt es für einen Dichter,
als sein eignes Leben rein sachlich und mit Verzichtleistung ans alle Effekte
und poetische Zieraten zu beschreiben. Etwas, das selbst Goethe nicht
gethan ^hatj, hat Hamerling vollbracht. Goethe schrieb "Wahrheit und Dichtung,"
Hamerling bloß "Wahrheit"." Dieses Urteil ist mindestens naiv; aber es ist
bezeichnend sür die riesige Überschätzung des Dichters Hamerling, die in seinen
nächsten Kreisen beliebt ist. Goethes Selbstbiographie ist zum Vorbild für alle
litterarische Geschichtschreibung geworden; aus ihr haben die deutschen Literar¬
historiker zu allererst an einem großen Beispiel gelernt, wie man einen Dichter
aus seiner Zeit herauswachsend anschauen und darstellen soll; so schön die
dichterischen Teile darin sind (das Märchen vom Prinzen, die Sesenheimer
Episode), so stehen sie doch hinter der Charakteristik des achtzehnten Jahr¬
hunderts und hinter der Darstellung des Werdens der Dichterseele zurück.
Als Hamerling seine Selbstbiographie schrieb, stand ihm der Verfall der deutschen
Litteraturgeschichte vor Angen, die Zettelforschnng, die philiströse Kleiuträmerei;
nicht ein Kunstwerk hat er geschrieben, sondern uur ein ziemlich trocknes, aber
auf seine eigne Autorität hin zuverlässiges Verzeichnis seiner wichtigsten Lebens-
thatsachen, nilsgeschmückt mit einigen Erinnerungen und Schilderungen aus
dein Jugendleben und dem Jahre 1848 in Wien. Die Charakterbilder von
Zeitgenossen, die eine solche Selbstbiographie erst bedeutend machen, spielen in
Hamerlings "Stationen" eine geringe Rolle.

Zum Glück sind diese zwei Stellen die einzigen in Roseggers "Erinne-
rungen," die litterarische Urteile im eigentlichen Sinne aussprechen. Sie ver¬
folgen ausschließlich den Zweck, Hamerling als Menschen, im Verkehr mit dein
Freunde, im vertraulichen Gedankenaustausch, gleichsam im Schlafrock zu
schildern, und darum verdienen sie alle Achtung. Solch ein Gedenkbuch zu
schreibe"?, kann ja auch keiner berufener sein, als ein Freund, der selbst ein
Dichter ist, d. h. ein Mensch, der zu der Liebe auch noch die Fähigkeit zu
beobachten, mitzufühlen, sich in andre Gemüter hineinzuversetzen mitbringt,


„Stationen" sagt er: „Sie sind das wertvollste Dokument seines Lebens und
Strebens und der Schlüssel zu seinen Werken." Das wird wohl kumm ein
Kenner der Werke Hamerlings unterschreiben. Denn wenn bei irgend einem
Dichter die Kenntnis seines Lebensganges entbehrlich ist, so ist es bei diesem.
Er hat ja meist historische Stoffe behandelt; er war z. B. stolz darauf, daß
die Westfalen die Wahrheit seiner Schilderung des Landes der roten Erde im
„König von Sion" bewunderten, ohne daß er jemals selbst Münster und
dessen Umgebung mit eignen Augen gesehen hätte. Hamerling ist allerdings
nnr im Zusammenhange mit seiner Zeit und Heimat richtig zu beurteilen, aber
er gehört nicht in die Reihe der Dichter, für die die Biographie der „Schlüssel"
zu ihre» Werken ist. Vermutlich würde er selbst hiergegen protestirt haben.
Ebenso wenig aber wird man Roseggers Werturteil über die „Stationen" unter¬
schreiben können, das lautet: „Nichts schwereres giebt es für einen Dichter,
als sein eignes Leben rein sachlich und mit Verzichtleistung ans alle Effekte
und poetische Zieraten zu beschreiben. Etwas, das selbst Goethe nicht
gethan ^hatj, hat Hamerling vollbracht. Goethe schrieb »Wahrheit und Dichtung,«
Hamerling bloß »Wahrheit«." Dieses Urteil ist mindestens naiv; aber es ist
bezeichnend sür die riesige Überschätzung des Dichters Hamerling, die in seinen
nächsten Kreisen beliebt ist. Goethes Selbstbiographie ist zum Vorbild für alle
litterarische Geschichtschreibung geworden; aus ihr haben die deutschen Literar¬
historiker zu allererst an einem großen Beispiel gelernt, wie man einen Dichter
aus seiner Zeit herauswachsend anschauen und darstellen soll; so schön die
dichterischen Teile darin sind (das Märchen vom Prinzen, die Sesenheimer
Episode), so stehen sie doch hinter der Charakteristik des achtzehnten Jahr¬
hunderts und hinter der Darstellung des Werdens der Dichterseele zurück.
Als Hamerling seine Selbstbiographie schrieb, stand ihm der Verfall der deutschen
Litteraturgeschichte vor Angen, die Zettelforschnng, die philiströse Kleiuträmerei;
nicht ein Kunstwerk hat er geschrieben, sondern uur ein ziemlich trocknes, aber
auf seine eigne Autorität hin zuverlässiges Verzeichnis seiner wichtigsten Lebens-
thatsachen, nilsgeschmückt mit einigen Erinnerungen und Schilderungen aus
dein Jugendleben und dem Jahre 1848 in Wien. Die Charakterbilder von
Zeitgenossen, die eine solche Selbstbiographie erst bedeutend machen, spielen in
Hamerlings „Stationen" eine geringe Rolle.

Zum Glück sind diese zwei Stellen die einzigen in Roseggers „Erinne-
rungen," die litterarische Urteile im eigentlichen Sinne aussprechen. Sie ver¬
folgen ausschließlich den Zweck, Hamerling als Menschen, im Verkehr mit dein
Freunde, im vertraulichen Gedankenaustausch, gleichsam im Schlafrock zu
schildern, und darum verdienen sie alle Achtung. Solch ein Gedenkbuch zu
schreibe«?, kann ja auch keiner berufener sein, als ein Freund, der selbst ein
Dichter ist, d. h. ein Mensch, der zu der Liebe auch noch die Fähigkeit zu
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[0287] „Stationen" sagt er: „Sie sind das wertvollste Dokument seines Lebens und Strebens und der Schlüssel zu seinen Werken." Das wird wohl kumm ein Kenner der Werke Hamerlings unterschreiben. Denn wenn bei irgend einem Dichter die Kenntnis seines Lebensganges entbehrlich ist, so ist es bei diesem. Er hat ja meist historische Stoffe behandelt; er war z. B. stolz darauf, daß die Westfalen die Wahrheit seiner Schilderung des Landes der roten Erde im „König von Sion" bewunderten, ohne daß er jemals selbst Münster und dessen Umgebung mit eignen Augen gesehen hätte. Hamerling ist allerdings nnr im Zusammenhange mit seiner Zeit und Heimat richtig zu beurteilen, aber er gehört nicht in die Reihe der Dichter, für die die Biographie der „Schlüssel" zu ihre» Werken ist. Vermutlich würde er selbst hiergegen protestirt haben. Ebenso wenig aber wird man Roseggers Werturteil über die „Stationen" unter¬ schreiben können, das lautet: „Nichts schwereres giebt es für einen Dichter, als sein eignes Leben rein sachlich und mit Verzichtleistung ans alle Effekte und poetische Zieraten zu beschreiben. Etwas, das selbst Goethe nicht gethan ^hatj, hat Hamerling vollbracht. Goethe schrieb »Wahrheit und Dichtung,« Hamerling bloß »Wahrheit«." Dieses Urteil ist mindestens naiv; aber es ist bezeichnend sür die riesige Überschätzung des Dichters Hamerling, die in seinen nächsten Kreisen beliebt ist. Goethes Selbstbiographie ist zum Vorbild für alle litterarische Geschichtschreibung geworden; aus ihr haben die deutschen Literar¬ historiker zu allererst an einem großen Beispiel gelernt, wie man einen Dichter aus seiner Zeit herauswachsend anschauen und darstellen soll; so schön die dichterischen Teile darin sind (das Märchen vom Prinzen, die Sesenheimer Episode), so stehen sie doch hinter der Charakteristik des achtzehnten Jahr¬ hunderts und hinter der Darstellung des Werdens der Dichterseele zurück. Als Hamerling seine Selbstbiographie schrieb, stand ihm der Verfall der deutschen Litteraturgeschichte vor Angen, die Zettelforschnng, die philiströse Kleiuträmerei; nicht ein Kunstwerk hat er geschrieben, sondern uur ein ziemlich trocknes, aber auf seine eigne Autorität hin zuverlässiges Verzeichnis seiner wichtigsten Lebens- thatsachen, nilsgeschmückt mit einigen Erinnerungen und Schilderungen aus dein Jugendleben und dem Jahre 1848 in Wien. Die Charakterbilder von Zeitgenossen, die eine solche Selbstbiographie erst bedeutend machen, spielen in Hamerlings „Stationen" eine geringe Rolle. Zum Glück sind diese zwei Stellen die einzigen in Roseggers „Erinne- rungen," die litterarische Urteile im eigentlichen Sinne aussprechen. Sie ver¬ folgen ausschließlich den Zweck, Hamerling als Menschen, im Verkehr mit dein Freunde, im vertraulichen Gedankenaustausch, gleichsam im Schlafrock zu schildern, und darum verdienen sie alle Achtung. Solch ein Gedenkbuch zu schreibe«?, kann ja auch keiner berufener sein, als ein Freund, der selbst ein Dichter ist, d. h. ein Mensch, der zu der Liebe auch noch die Fähigkeit zu beobachten, mitzufühlen, sich in andre Gemüter hineinzuversetzen mitbringt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/287>, abgerufen am 24.07.2024.