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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Sekteuwesen

nahmen, ohne die Welt zu verlassen und ins Kloster zu gehen, gebar eine
Settirerei. Beghinen und Begarden nannten sich fromme Personen, die teils
einzeln für sich, teils gemeinsam, aber nicht in Klöstern, nach der Franzistaner-
regel lebten und sich mit nützlichen Arbeiten beschäftigten. Einige davon thaten
nichts Exzentrisches und wurden auch von der Kirche nicht behelligt. Andre
dagegen gerieten auf die Wege der Schwärmer und Sektirer. Haupt will gar
nicht zugeben, daß bei den Beghinen irgend etwas Ungehöriges vorgekommen
sei; auch ist es erwiesen, daß gerade die nützlichsten uuter ihnen, nämlich solche,
die Weberei und andre Gewerbe gemeinsam und fleißig betrieben, lediglich ans
Konkurrenzneid uuter dem Vorwande der Ketzerei verfolgt worden sind. Aber
er scheint mit seiner gar zu guten Meinung ziemlich allein zu stehen. Im
Jahrgang 1888 des ^roliivio Ltoric?" Iwlmno hat Felice Toeco ein paar kleine
Aktenstücke ans dem Florentiner Staatsarchiv veröffentlicht und dabei folgende
Ausicht aufgestellt. Die Veghiuen zerfallen in zwei Klaffen, die Beghinen der
Armut und die Begarden. Die Beghinen der Armut warm Tertiarier des
Franziskauerordeus und behauptete!?, das Gesetz des Evangeliums schreibe
Armut, Keuschheit und Gehorsam vor. Kein Papst oder Konzil dürfe dieses
Gesetz ändern oder mildern; deshalb seien Papst Johann XXII. und alle, die
ihm anhingen, Häretiker. Diese Anhänger des häretisch gewordenen Papsttums
bildeten zusammen die fleischliche Kirche, jenes Weib der Apokalypse, das auf
dem Tiere sitzt, uach Gold dürstend und trunken vom Blute der Heiligen.
Im siebenten Zustande der Menschheit werde diese Kirche zerstört werden und
der wahren Kirche Platz machen. Einige erwarteten, der Hohenstaufe
Friedrich II. werde wieder auferstehen und die römische Kirche vernichten, und
als im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts wieder ein Friedrich, der Ara-
gonier, über Sizilien herrschte, da glaubten die Schwärmer, der andre sizilianische
Friedrich sei schon in ihm wiedererstanden. Die Beghinen des freien Geistes
hingegen lehnten sich an die pantheistischen Sekten der Zeit an. Sie lehrten,
daß der Vollkommene ein wesentlicher Teil Gottes sei und nicht mehr sündigen
könne. Er brauche weder zu fasten noch zu beten, noch sei er überhaupt an
ein Gesetz gebunden, in völliger Freiheit genieße er schon diesseits das Glück
der Seligen. Beide Sekten sind einander demnach gerade entgegengesetzt.
Während die Franziskanerbeghinen im letzten Zustande der Menschheit, dem
Zeitalter des heiligen Geistes, den vollkommnen Triumph der mönchischen
Askese erwarten, malen sich ihn die Begarden als ein Leben in ungezügelter
Sinnenlust aus, das von keinem Priester mehr durch Erweckung der Furcht
vor der Sünde gestört werden werde. Und während jene behaupten, es sei
besser, die Menschheit aussterben zu lassen, als das Keuschheitsgebot zu brechen,
erklären diese den geschlechtlichen Verkehr nur in den Fällen für Sünde, wo
die Neigung fehlt. (Die Urkunde,! bei Döllinger enthalten sehr drastische Be¬
schreibungen von den Dingen, die der "srh Geist" getrieben haben soll;


Das mittelalterliche Sekteuwesen

nahmen, ohne die Welt zu verlassen und ins Kloster zu gehen, gebar eine
Settirerei. Beghinen und Begarden nannten sich fromme Personen, die teils
einzeln für sich, teils gemeinsam, aber nicht in Klöstern, nach der Franzistaner-
regel lebten und sich mit nützlichen Arbeiten beschäftigten. Einige davon thaten
nichts Exzentrisches und wurden auch von der Kirche nicht behelligt. Andre
dagegen gerieten auf die Wege der Schwärmer und Sektirer. Haupt will gar
nicht zugeben, daß bei den Beghinen irgend etwas Ungehöriges vorgekommen
sei; auch ist es erwiesen, daß gerade die nützlichsten uuter ihnen, nämlich solche,
die Weberei und andre Gewerbe gemeinsam und fleißig betrieben, lediglich ans
Konkurrenzneid uuter dem Vorwande der Ketzerei verfolgt worden sind. Aber
er scheint mit seiner gar zu guten Meinung ziemlich allein zu stehen. Im
Jahrgang 1888 des ^roliivio Ltoric?» Iwlmno hat Felice Toeco ein paar kleine
Aktenstücke ans dem Florentiner Staatsarchiv veröffentlicht und dabei folgende
Ausicht aufgestellt. Die Veghiuen zerfallen in zwei Klaffen, die Beghinen der
Armut und die Begarden. Die Beghinen der Armut warm Tertiarier des
Franziskauerordeus und behauptete!?, das Gesetz des Evangeliums schreibe
Armut, Keuschheit und Gehorsam vor. Kein Papst oder Konzil dürfe dieses
Gesetz ändern oder mildern; deshalb seien Papst Johann XXII. und alle, die
ihm anhingen, Häretiker. Diese Anhänger des häretisch gewordenen Papsttums
bildeten zusammen die fleischliche Kirche, jenes Weib der Apokalypse, das auf
dem Tiere sitzt, uach Gold dürstend und trunken vom Blute der Heiligen.
Im siebenten Zustande der Menschheit werde diese Kirche zerstört werden und
der wahren Kirche Platz machen. Einige erwarteten, der Hohenstaufe
Friedrich II. werde wieder auferstehen und die römische Kirche vernichten, und
als im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts wieder ein Friedrich, der Ara-
gonier, über Sizilien herrschte, da glaubten die Schwärmer, der andre sizilianische
Friedrich sei schon in ihm wiedererstanden. Die Beghinen des freien Geistes
hingegen lehnten sich an die pantheistischen Sekten der Zeit an. Sie lehrten,
daß der Vollkommene ein wesentlicher Teil Gottes sei und nicht mehr sündigen
könne. Er brauche weder zu fasten noch zu beten, noch sei er überhaupt an
ein Gesetz gebunden, in völliger Freiheit genieße er schon diesseits das Glück
der Seligen. Beide Sekten sind einander demnach gerade entgegengesetzt.
Während die Franziskanerbeghinen im letzten Zustande der Menschheit, dem
Zeitalter des heiligen Geistes, den vollkommnen Triumph der mönchischen
Askese erwarten, malen sich ihn die Begarden als ein Leben in ungezügelter
Sinnenlust aus, das von keinem Priester mehr durch Erweckung der Furcht
vor der Sünde gestört werden werde. Und während jene behaupten, es sei
besser, die Menschheit aussterben zu lassen, als das Keuschheitsgebot zu brechen,
erklären diese den geschlechtlichen Verkehr nur in den Fällen für Sünde, wo
die Neigung fehlt. (Die Urkunde,! bei Döllinger enthalten sehr drastische Be¬
schreibungen von den Dingen, die der „srh Geist" getrieben haben soll;


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[0283] Das mittelalterliche Sekteuwesen nahmen, ohne die Welt zu verlassen und ins Kloster zu gehen, gebar eine Settirerei. Beghinen und Begarden nannten sich fromme Personen, die teils einzeln für sich, teils gemeinsam, aber nicht in Klöstern, nach der Franzistaner- regel lebten und sich mit nützlichen Arbeiten beschäftigten. Einige davon thaten nichts Exzentrisches und wurden auch von der Kirche nicht behelligt. Andre dagegen gerieten auf die Wege der Schwärmer und Sektirer. Haupt will gar nicht zugeben, daß bei den Beghinen irgend etwas Ungehöriges vorgekommen sei; auch ist es erwiesen, daß gerade die nützlichsten uuter ihnen, nämlich solche, die Weberei und andre Gewerbe gemeinsam und fleißig betrieben, lediglich ans Konkurrenzneid uuter dem Vorwande der Ketzerei verfolgt worden sind. Aber er scheint mit seiner gar zu guten Meinung ziemlich allein zu stehen. Im Jahrgang 1888 des ^roliivio Ltoric?» Iwlmno hat Felice Toeco ein paar kleine Aktenstücke ans dem Florentiner Staatsarchiv veröffentlicht und dabei folgende Ausicht aufgestellt. Die Veghiuen zerfallen in zwei Klaffen, die Beghinen der Armut und die Begarden. Die Beghinen der Armut warm Tertiarier des Franziskauerordeus und behauptete!?, das Gesetz des Evangeliums schreibe Armut, Keuschheit und Gehorsam vor. Kein Papst oder Konzil dürfe dieses Gesetz ändern oder mildern; deshalb seien Papst Johann XXII. und alle, die ihm anhingen, Häretiker. Diese Anhänger des häretisch gewordenen Papsttums bildeten zusammen die fleischliche Kirche, jenes Weib der Apokalypse, das auf dem Tiere sitzt, uach Gold dürstend und trunken vom Blute der Heiligen. Im siebenten Zustande der Menschheit werde diese Kirche zerstört werden und der wahren Kirche Platz machen. Einige erwarteten, der Hohenstaufe Friedrich II. werde wieder auferstehen und die römische Kirche vernichten, und als im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts wieder ein Friedrich, der Ara- gonier, über Sizilien herrschte, da glaubten die Schwärmer, der andre sizilianische Friedrich sei schon in ihm wiedererstanden. Die Beghinen des freien Geistes hingegen lehnten sich an die pantheistischen Sekten der Zeit an. Sie lehrten, daß der Vollkommene ein wesentlicher Teil Gottes sei und nicht mehr sündigen könne. Er brauche weder zu fasten noch zu beten, noch sei er überhaupt an ein Gesetz gebunden, in völliger Freiheit genieße er schon diesseits das Glück der Seligen. Beide Sekten sind einander demnach gerade entgegengesetzt. Während die Franziskanerbeghinen im letzten Zustande der Menschheit, dem Zeitalter des heiligen Geistes, den vollkommnen Triumph der mönchischen Askese erwarten, malen sich ihn die Begarden als ein Leben in ungezügelter Sinnenlust aus, das von keinem Priester mehr durch Erweckung der Furcht vor der Sünde gestört werden werde. Und während jene behaupten, es sei besser, die Menschheit aussterben zu lassen, als das Keuschheitsgebot zu brechen, erklären diese den geschlechtlichen Verkehr nur in den Fällen für Sünde, wo die Neigung fehlt. (Die Urkunde,! bei Döllinger enthalten sehr drastische Be¬ schreibungen von den Dingen, die der „srh Geist" getrieben haben soll;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/283>, abgerufen am 24.07.2024.