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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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er die Schuld bei, daß dem Staate der Untergang drohe. So kam es, daß
gerade die, die wirtschaftlich Not litten, zur Wahl Solons drängten, während
die Eupatriden geschehen ließen, was sie nicht hindern konnten. Über das
Mittel, das Solon anwandte, um die Not des armen Volkes zu beseitigen, ist
bis zur gegenwärtigen Zeit viel gestritten worden; seit dem Bekanntwerden
unsrer Aristotelischen Schrift kann uicht der geringste Zweifel mehr darüber
bestehen, daß die von ihm durchgeführte Seisachthie wirklich eine Tilgung der
damals schwebenden öffentlichen und privaten Schulden gewesen ist. Hervor¬
ragende Gelehrte waren es, die bisher an einem derartig radikalen Sinn der
Seisachthie zweifelten und in ihr nnr eine Schuldenverriugeruug sehen wollten,
herbeigeführt dnrch Herabsetzung des Münzfußes. Aristoteles macht eine solche
Auslegung für die Zukunft ganz unmöglich, er sagt: "^olor hat vor seiner
Gesetzgebung die Tilgung der Schulden vorgenommen und darnach die Ver¬
änderung des Maß-, Gewichts- und Müuzweseus (dnrch Einführung des
euböischen Shstems)." Die Seisachthie, eine Gewaltmaßregel ohne gleichen,
selbst revolutionären Charakters und nur gerechtfertigt als letztes Mittel in
revolutionärer Zeit zur Erhaltung eines Staatswesens, das aus den Fugen
zu g.'hen drohte, zeigt uns am besten die durchgreifende Energie des Mannes.
Aristoteles weist dabei auf eine schimpfliche Verdächtigung hin, von der auch
Plutarch spricht, und macht auf das Unwahrscheinliche des häßlichen Geredes
aufmerksam. Solon habe, so sagten die Verleumder, vor der Bekanntmachung
der Schuldentilgung in Gemeinschaft mit andern Reichen, möglichst viel Land,
auf dem Schulden standen, käuflich an sich gebracht und somit von der Schulden¬
tilgung einen großen Gewinn für sich gezogen. Aristoteles entgegnet dem:
Der Mann, der die Herrschaft über Athen verschmähte, die ihm angeboten
wurde, und die er leicht behaupten konnte, wenn er auf die eine Partei sich
stützend die andre niederwarf, der Mann, der das Wohl des Vaterlandes
immer höher achtete als persönlichen Gewinn, wird um kleinlicher und un¬
würdiger Habgier willen seine Ehre nicht beschmutzt haben.

Aristoteles teilt auch eine für die Zeit und die Persönlichkeit Solons
charakteristische gesetzliche Bestimmung mit, die, solange sie nnr ans Plnwrch
und Gellius bekannt war, vielfach angezweifelt worden ist; ich meine das Ver¬
bot der Neutralität bei innerm Zwist und Bürgerkrieg. Wenn sich wieder
zwischen den Parteien blutige Fehde erheben sollte, müsse jeder, so ließ er
verkündigen, Partei ergreifen; für ehrlos und des Bürgerrechts verlustig solle
der erklärt werden, der in Zeiten solcher Not und Gefahr den ruhigen Zu-
schmler abgegeben hätte. Nur wer festes Vertrauen auf den gesunden Sinn
der Mehrheit seiner Mitbürger setzte, konnte ein solches Gesetz erlassen. Selbst¬
verständlich hat auch Solon nicht das Unmögliche erreichen können, allen
Parteien es recht zu machen; ja, da er sich, wie er selber sagt, in die Mitte
zwischen die Parteien stellte, mit seinem Schilde die eine vor der andern deckend


er die Schuld bei, daß dem Staate der Untergang drohe. So kam es, daß
gerade die, die wirtschaftlich Not litten, zur Wahl Solons drängten, während
die Eupatriden geschehen ließen, was sie nicht hindern konnten. Über das
Mittel, das Solon anwandte, um die Not des armen Volkes zu beseitigen, ist
bis zur gegenwärtigen Zeit viel gestritten worden; seit dem Bekanntwerden
unsrer Aristotelischen Schrift kann uicht der geringste Zweifel mehr darüber
bestehen, daß die von ihm durchgeführte Seisachthie wirklich eine Tilgung der
damals schwebenden öffentlichen und privaten Schulden gewesen ist. Hervor¬
ragende Gelehrte waren es, die bisher an einem derartig radikalen Sinn der
Seisachthie zweifelten und in ihr nnr eine Schuldenverriugeruug sehen wollten,
herbeigeführt dnrch Herabsetzung des Münzfußes. Aristoteles macht eine solche
Auslegung für die Zukunft ganz unmöglich, er sagt: „^olor hat vor seiner
Gesetzgebung die Tilgung der Schulden vorgenommen und darnach die Ver¬
änderung des Maß-, Gewichts- und Müuzweseus (dnrch Einführung des
euböischen Shstems)." Die Seisachthie, eine Gewaltmaßregel ohne gleichen,
selbst revolutionären Charakters und nur gerechtfertigt als letztes Mittel in
revolutionärer Zeit zur Erhaltung eines Staatswesens, das aus den Fugen
zu g.'hen drohte, zeigt uns am besten die durchgreifende Energie des Mannes.
Aristoteles weist dabei auf eine schimpfliche Verdächtigung hin, von der auch
Plutarch spricht, und macht auf das Unwahrscheinliche des häßlichen Geredes
aufmerksam. Solon habe, so sagten die Verleumder, vor der Bekanntmachung
der Schuldentilgung in Gemeinschaft mit andern Reichen, möglichst viel Land,
auf dem Schulden standen, käuflich an sich gebracht und somit von der Schulden¬
tilgung einen großen Gewinn für sich gezogen. Aristoteles entgegnet dem:
Der Mann, der die Herrschaft über Athen verschmähte, die ihm angeboten
wurde, und die er leicht behaupten konnte, wenn er auf die eine Partei sich
stützend die andre niederwarf, der Mann, der das Wohl des Vaterlandes
immer höher achtete als persönlichen Gewinn, wird um kleinlicher und un¬
würdiger Habgier willen seine Ehre nicht beschmutzt haben.

Aristoteles teilt auch eine für die Zeit und die Persönlichkeit Solons
charakteristische gesetzliche Bestimmung mit, die, solange sie nnr ans Plnwrch
und Gellius bekannt war, vielfach angezweifelt worden ist; ich meine das Ver¬
bot der Neutralität bei innerm Zwist und Bürgerkrieg. Wenn sich wieder
zwischen den Parteien blutige Fehde erheben sollte, müsse jeder, so ließ er
verkündigen, Partei ergreifen; für ehrlos und des Bürgerrechts verlustig solle
der erklärt werden, der in Zeiten solcher Not und Gefahr den ruhigen Zu-
schmler abgegeben hätte. Nur wer festes Vertrauen auf den gesunden Sinn
der Mehrheit seiner Mitbürger setzte, konnte ein solches Gesetz erlassen. Selbst¬
verständlich hat auch Solon nicht das Unmögliche erreichen können, allen
Parteien es recht zu machen; ja, da er sich, wie er selber sagt, in die Mitte
zwischen die Parteien stellte, mit seinem Schilde die eine vor der andern deckend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/27>, abgerufen am 24.07.2024.