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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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dort eingewandert sind --, hatte sich vorgenommen, deutsche Sitten und
deutsches Leben gründlich kennen zu lernen, und hat zu diesem Zwecke die
Urteile französischer Schriftsteller über Deutschland studirt. Was Voltaire,
Madame de Staöl, H. Heine, "ein befreiter Preuße, der überall zeigt, das;
er sich schämt, in Deutschland geboren zu sein," was Michelet hierüber ge¬
schrieben haben, hat er mit Interesse gelesen, ebenso einzelne Charakterzüge, die
Renan, Balzac, Taine in Bezug auf deutsches Wesen liefern. In die Schule
dieser Schriftsteller war er gegangen, und der Typus des Deutschtums, den
sie ihm darboten, hatte ihm gefallen. Auch war er oft in Deutschland ge¬
wesen, um das Ideal von dem "deutscheu Michel," wie er sichs nu der Hcmo
jener Schriftsteller zurecht gelegt hatte, zu beobachten. Leider vergebens. Über
der Betrachtung der alten Kirchen, Bilder, Museen, bei der Vertiefung in die
deutsche Dichtung, Philosophie und Musik war er, wie er gesteht, nie dazu
gekommen, sich ein rechtes Bild von dem heutigen Leben in Deutschland zu
machen. Zwar hatte er bemerkt, "daß Rechtschaffenheit und linkisches Wesen,
Unbefangenheit und Schwerfälligkeit, Zärtlichkeit und Roheit, Kraft des Denkens
und Einfalt, Schwäche der Sinneswahrnehmungen und Stärke der Empfindung"
bezeichnende Merkmale der deutschen Natur seien, doch sind ihm im allgemeinen
die Deutschen mehr als Museumswnchter vorgekommen, und er ist ihnen dankbar
gewesen, daß sie die kostbaren Sammlungen in so guter Ordnung gehalten
und die ihnen anvertrauten Erinnerungen an ihre Vergangenheit so gut be¬
wahrt haben. Kurz, er hatte sich nie ein rechtes Bild über deutsches Wesen
machen können. Das sollte anders werden, und er nahm sich vor, nochmals
und ohne Vorurteil seine Beobachtungen anzustellen.

Schnell kaufte er sich eine Fahrkarte von Paris nach Köln, um seine
kulturgeschichtlichen Studien sofort zu beginnen. Lange sollte er nicht zu
warten brauchen. Im Eisenbahnwagen sieht er zwei in mächtige Rauchwolken
gehüllte Herren, die sich einander mit den Worten vorstellen: "Mein Name
ist Musikdirektor L. ans Hamburg -- Mein Name ist Weinhändler V. ans
Dresden," sich sogleich von der "Riesenstadt" unterhalten, die sie soeben ver¬
lassen bilden, und einander die Geschenke zeigen, die sie ihren Angehörigen mit¬
bringen wolle". Freilich ist es nur Schundware, die unser liebenswürdiger
Franzose sonst nur in Deutschland gesehen hat. Ihre Vewunderung der schönen
Sachen unterbrechen sie jeden Augenblick mit "der in ihrem Lande sprichwört¬
lichen Redensart: Ach Gott, es ist doch mir ein Paris!" Alles, was sie in
Paris gesehen haben, ist "herrlich, famos, wunderbar," und Frankreich erscheint
ihnen als die "Verkörperung der Eleganz, des Reichtums und der Majestät."
Und dabei haben die Leute eigentlich nnr einige Tingeltangel und Kneipen,
wo es gutes Bier gab, gesehen! Während sie sich so unterhalten und da¬
zwischen essen, ohne natürlich einander etwas anzubieten, sehen sie "mit ihren
guten, einfältigen Angen" den eleganten Franzosen in der Ecke an, "als wollten


dort eingewandert sind —, hatte sich vorgenommen, deutsche Sitten und
deutsches Leben gründlich kennen zu lernen, und hat zu diesem Zwecke die
Urteile französischer Schriftsteller über Deutschland studirt. Was Voltaire,
Madame de Staöl, H. Heine, „ein befreiter Preuße, der überall zeigt, das;
er sich schämt, in Deutschland geboren zu sein," was Michelet hierüber ge¬
schrieben haben, hat er mit Interesse gelesen, ebenso einzelne Charakterzüge, die
Renan, Balzac, Taine in Bezug auf deutsches Wesen liefern. In die Schule
dieser Schriftsteller war er gegangen, und der Typus des Deutschtums, den
sie ihm darboten, hatte ihm gefallen. Auch war er oft in Deutschland ge¬
wesen, um das Ideal von dem „deutscheu Michel," wie er sichs nu der Hcmo
jener Schriftsteller zurecht gelegt hatte, zu beobachten. Leider vergebens. Über
der Betrachtung der alten Kirchen, Bilder, Museen, bei der Vertiefung in die
deutsche Dichtung, Philosophie und Musik war er, wie er gesteht, nie dazu
gekommen, sich ein rechtes Bild von dem heutigen Leben in Deutschland zu
machen. Zwar hatte er bemerkt, „daß Rechtschaffenheit und linkisches Wesen,
Unbefangenheit und Schwerfälligkeit, Zärtlichkeit und Roheit, Kraft des Denkens
und Einfalt, Schwäche der Sinneswahrnehmungen und Stärke der Empfindung"
bezeichnende Merkmale der deutschen Natur seien, doch sind ihm im allgemeinen
die Deutschen mehr als Museumswnchter vorgekommen, und er ist ihnen dankbar
gewesen, daß sie die kostbaren Sammlungen in so guter Ordnung gehalten
und die ihnen anvertrauten Erinnerungen an ihre Vergangenheit so gut be¬
wahrt haben. Kurz, er hatte sich nie ein rechtes Bild über deutsches Wesen
machen können. Das sollte anders werden, und er nahm sich vor, nochmals
und ohne Vorurteil seine Beobachtungen anzustellen.

Schnell kaufte er sich eine Fahrkarte von Paris nach Köln, um seine
kulturgeschichtlichen Studien sofort zu beginnen. Lange sollte er nicht zu
warten brauchen. Im Eisenbahnwagen sieht er zwei in mächtige Rauchwolken
gehüllte Herren, die sich einander mit den Worten vorstellen: „Mein Name
ist Musikdirektor L. ans Hamburg — Mein Name ist Weinhändler V. ans
Dresden," sich sogleich von der „Riesenstadt" unterhalten, die sie soeben ver¬
lassen bilden, und einander die Geschenke zeigen, die sie ihren Angehörigen mit¬
bringen wolle». Freilich ist es nur Schundware, die unser liebenswürdiger
Franzose sonst nur in Deutschland gesehen hat. Ihre Vewunderung der schönen
Sachen unterbrechen sie jeden Augenblick mit „der in ihrem Lande sprichwört¬
lichen Redensart: Ach Gott, es ist doch mir ein Paris!" Alles, was sie in
Paris gesehen haben, ist „herrlich, famos, wunderbar," und Frankreich erscheint
ihnen als die „Verkörperung der Eleganz, des Reichtums und der Majestät."
Und dabei haben die Leute eigentlich nnr einige Tingeltangel und Kneipen,
wo es gutes Bier gab, gesehen! Während sie sich so unterhalten und da¬
zwischen essen, ohne natürlich einander etwas anzubieten, sehen sie „mit ihren
guten, einfältigen Angen" den eleganten Franzosen in der Ecke an, „als wollten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/262>, abgerufen am 04.07.2024.