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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Allerhand Sprachdummheiten

stehen müssen, das sie regieren. Das ist so natürlich und selbstverständlich
wie irgend etwas, es kann gar nicht anders sein. Im griechischen Unterricht
wird der Junge, und zwar auf der untersten Stufe schon, mit dem geheimnis¬
vollen Begriff der "Proelitiea" geängstigt. Ich will für solche, die bloß
"realistisch" gebildet sind, bemerken, daß man "Proclitieae" (d. h. vorn an¬
gelehnte) in der griechischen Grammatik gewisse einsilbige Wörtchen nennt,
die, weil sie eben einsilbig sind und für sich allein noch nichts bedeuten, auch
keinen eignen Ton haben, sondern -- wie mit magnetischer Kraft -- um das
Wort, das ihnen folgt, hinangezogen werden. Dazu gehören auch einige
einsilbige Präpositionen. Ich entsinne mich nun aus meiner Schulzeit deut¬
lich, daß mich dieser Begriff der Proelitiea (und der seines Gegenstücks, der
Enclitiea) jahrelang geängstigt hat. Diese Wörtchen "werfen," hieß es, "ihren
Accent auf das folgende Wort" -- das war mir lange Zeit etwas ganz Un¬
heimliches. Wäre der Lehrer einmal auf den klugen Gedanken gekommen, zu
sagen: Kinder, laßt euch uicht bange machen durch die fürchterlichen Wörter
Proelitiea und Enelitica, es sind das Kunstausdrücke aus der griechischen Accent-
lehre, die stehen nun einmal in der Grammatik, ich kann sie euch nicht er¬
sparen, aber die Sache selbst ist überaus einfach, sie findet sich in allen
Sprachen, sie findet sich vor allem auch in unsrer Muttersprache, wo ihr ja
auch sagt: mit Gott, zu mir, nach Hcnise u. s. w., so wäre uus alle Angst
und Not erspart geblieben. Aber der Lehrer fing natürlich so an: Proclitieae
nennt Ulan diejenigen Wörter, welche u. s. w. Da dauerte es freilich
lange, bis wir dahinterkämen; ich selbst bin erst spät und eigentlich ganz
zufällig durch Vergleichung mit dein Deutschen dahintergekommen. Weil
nun aber die Präpositionen solche Proclitieae sind, die innig mit dem Worte,
das von ihnen abhängt, verwachsen, deshalb ist es ganz unmöglich, irgend
etwas einzuschieben zwischen die Präposition und das abhängige Wort. Auch
das wurde uns später wieder merkwürdigerweise besonders im Griechischen
eingeschürft; es dürfe sich, hieß es, niemals ein Adverbium zwischen die Prä¬
position und das abhängige Wort drängen, es dürfe also niemals heißen
TM l^.ävov 176), sondern immer ^6ovo i-<7> u. s. w. Aber auch da wieder
sagte uus merkwürdigerweise niemand, daß es in unsrer Muttersprache genau
so ist, ja in allen Sprachen so sein muß, ebeu vermöge der Natur der
Präpositionen.

Da ist nun neuerdings der große Logiker auch drüber gekommen und
hat sich überlegt: fast in alleu Fällen -- das kann doch nicht richtig sein!
Das fast gehört doch nicht zu in, es gehört ja zu allen! Also muß es
heißen: in fast allen Fällen. Und so wird denn wirklich seit einiger Zeit
immer massenhafter geschrieben: die von fast alleu Grammatikern gerügte
Gewohnheit -- es geht eine Bewegung durch fast sämtliche Kulturstaaten --
mit fast gar keinen Vorkenntnissen -- mit nur echten Spitzen -- das Stück


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stehen müssen, das sie regieren. Das ist so natürlich und selbstverständlich
wie irgend etwas, es kann gar nicht anders sein. Im griechischen Unterricht
wird der Junge, und zwar auf der untersten Stufe schon, mit dem geheimnis¬
vollen Begriff der „Proelitiea" geängstigt. Ich will für solche, die bloß
„realistisch" gebildet sind, bemerken, daß man „Proclitieae" (d. h. vorn an¬
gelehnte) in der griechischen Grammatik gewisse einsilbige Wörtchen nennt,
die, weil sie eben einsilbig sind und für sich allein noch nichts bedeuten, auch
keinen eignen Ton haben, sondern — wie mit magnetischer Kraft — um das
Wort, das ihnen folgt, hinangezogen werden. Dazu gehören auch einige
einsilbige Präpositionen. Ich entsinne mich nun aus meiner Schulzeit deut¬
lich, daß mich dieser Begriff der Proelitiea (und der seines Gegenstücks, der
Enclitiea) jahrelang geängstigt hat. Diese Wörtchen „werfen," hieß es, „ihren
Accent auf das folgende Wort" — das war mir lange Zeit etwas ganz Un¬
heimliches. Wäre der Lehrer einmal auf den klugen Gedanken gekommen, zu
sagen: Kinder, laßt euch uicht bange machen durch die fürchterlichen Wörter
Proelitiea und Enelitica, es sind das Kunstausdrücke aus der griechischen Accent-
lehre, die stehen nun einmal in der Grammatik, ich kann sie euch nicht er¬
sparen, aber die Sache selbst ist überaus einfach, sie findet sich in allen
Sprachen, sie findet sich vor allem auch in unsrer Muttersprache, wo ihr ja
auch sagt: mit Gott, zu mir, nach Hcnise u. s. w., so wäre uus alle Angst
und Not erspart geblieben. Aber der Lehrer fing natürlich so an: Proclitieae
nennt Ulan diejenigen Wörter, welche u. s. w. Da dauerte es freilich
lange, bis wir dahinterkämen; ich selbst bin erst spät und eigentlich ganz
zufällig durch Vergleichung mit dein Deutschen dahintergekommen. Weil
nun aber die Präpositionen solche Proclitieae sind, die innig mit dem Worte,
das von ihnen abhängt, verwachsen, deshalb ist es ganz unmöglich, irgend
etwas einzuschieben zwischen die Präposition und das abhängige Wort. Auch
das wurde uns später wieder merkwürdigerweise besonders im Griechischen
eingeschürft; es dürfe sich, hieß es, niemals ein Adverbium zwischen die Prä¬
position und das abhängige Wort drängen, es dürfe also niemals heißen
TM l^.ävov 176), sondern immer ^6ovo i-<7> u. s. w. Aber auch da wieder
sagte uus merkwürdigerweise niemand, daß es in unsrer Muttersprache genau
so ist, ja in allen Sprachen so sein muß, ebeu vermöge der Natur der
Präpositionen.

Da ist nun neuerdings der große Logiker auch drüber gekommen und
hat sich überlegt: fast in alleu Fällen — das kann doch nicht richtig sein!
Das fast gehört doch nicht zu in, es gehört ja zu allen! Also muß es
heißen: in fast allen Fällen. Und so wird denn wirklich seit einiger Zeit
immer massenhafter geschrieben: die von fast alleu Grammatikern gerügte
Gewohnheit — es geht eine Bewegung durch fast sämtliche Kulturstaaten —
mit fast gar keinen Vorkenntnissen — mit nur echten Spitzen — das Stück


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[0248] Allerhand Sprachdummheiten stehen müssen, das sie regieren. Das ist so natürlich und selbstverständlich wie irgend etwas, es kann gar nicht anders sein. Im griechischen Unterricht wird der Junge, und zwar auf der untersten Stufe schon, mit dem geheimnis¬ vollen Begriff der „Proelitiea" geängstigt. Ich will für solche, die bloß „realistisch" gebildet sind, bemerken, daß man „Proclitieae" (d. h. vorn an¬ gelehnte) in der griechischen Grammatik gewisse einsilbige Wörtchen nennt, die, weil sie eben einsilbig sind und für sich allein noch nichts bedeuten, auch keinen eignen Ton haben, sondern — wie mit magnetischer Kraft — um das Wort, das ihnen folgt, hinangezogen werden. Dazu gehören auch einige einsilbige Präpositionen. Ich entsinne mich nun aus meiner Schulzeit deut¬ lich, daß mich dieser Begriff der Proelitiea (und der seines Gegenstücks, der Enclitiea) jahrelang geängstigt hat. Diese Wörtchen „werfen," hieß es, „ihren Accent auf das folgende Wort" — das war mir lange Zeit etwas ganz Un¬ heimliches. Wäre der Lehrer einmal auf den klugen Gedanken gekommen, zu sagen: Kinder, laßt euch uicht bange machen durch die fürchterlichen Wörter Proelitiea und Enelitica, es sind das Kunstausdrücke aus der griechischen Accent- lehre, die stehen nun einmal in der Grammatik, ich kann sie euch nicht er¬ sparen, aber die Sache selbst ist überaus einfach, sie findet sich in allen Sprachen, sie findet sich vor allem auch in unsrer Muttersprache, wo ihr ja auch sagt: mit Gott, zu mir, nach Hcnise u. s. w., so wäre uus alle Angst und Not erspart geblieben. Aber der Lehrer fing natürlich so an: Proclitieae nennt Ulan diejenigen Wörter, welche u. s. w. Da dauerte es freilich lange, bis wir dahinterkämen; ich selbst bin erst spät und eigentlich ganz zufällig durch Vergleichung mit dein Deutschen dahintergekommen. Weil nun aber die Präpositionen solche Proclitieae sind, die innig mit dem Worte, das von ihnen abhängt, verwachsen, deshalb ist es ganz unmöglich, irgend etwas einzuschieben zwischen die Präposition und das abhängige Wort. Auch das wurde uns später wieder merkwürdigerweise besonders im Griechischen eingeschürft; es dürfe sich, hieß es, niemals ein Adverbium zwischen die Prä¬ position und das abhängige Wort drängen, es dürfe also niemals heißen TM l^.ävov 176), sondern immer ^6ovo i-<7> u. s. w. Aber auch da wieder sagte uus merkwürdigerweise niemand, daß es in unsrer Muttersprache genau so ist, ja in allen Sprachen so sein muß, ebeu vermöge der Natur der Präpositionen. Da ist nun neuerdings der große Logiker auch drüber gekommen und hat sich überlegt: fast in alleu Fällen — das kann doch nicht richtig sein! Das fast gehört doch nicht zu in, es gehört ja zu allen! Also muß es heißen: in fast allen Fällen. Und so wird denn wirklich seit einiger Zeit immer massenhafter geschrieben: die von fast alleu Grammatikern gerügte Gewohnheit — es geht eine Bewegung durch fast sämtliche Kulturstaaten — mit fast gar keinen Vorkenntnissen — mit nur echten Spitzen — das Stück

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/248>, abgerufen am 24.07.2024.