Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?iis mittelalterliche Sekteilwesen

die Nation im Innersten bewegt, mit dem, was sie anstrebt, was sie für
heilsam hält. Bis jetzt scheint dies nicht der Fall zu sein. Wenn sich aber die
Regierung die Antworten, die das Berliner Schulparlament ans die Kaiser¬
fragen gegeben hat, ncüons volons zu eigen "lacht, dann wird sie Sturm
ernte".




Das mittelalterliche ^ektenwesen

m
e Idee, die für sich allein bleibt, kann so wenig zur Entfaltung
kommen, wir eine abgesperrte Persönlichkeit. Ideen und Per¬
sonen werden wirksam, man darf vielleicht sagen wirklich, in der
Reibung und Wechselwirkung mit andern Ideen und Personen.
Sofern die aus einander einwirkenden Ideen und Personen im
Gegensatze zu einander stehen, erscheint ihre Wechselwirkung als Kampf. Und
dn keine Idee wie keine Persönlichkeit es vermeiden kann, die bekämpfte Idee
oder Person wenigstens teilweise in sich aufzunehmen, wird der Gegensatz in
sie selbst hineinverlegt und erscheint als Widerspruch. Daher sagt Hase ganz
richtig, der erste Schritt zur Verwirklichung einer Idee sei der Abfall von ihr
selbst, und der christliche Ideenkreis habe sich diesem allgemeinen Gesetze nicht
entziehen können. Um Kirche werden zu können, mußte der Geist des Christen¬
tums gewissermaßen von sich selber abfallen. Der Geist des Evangeliums
ruft den Menschen zur Abkehr von der Welt und zur Einkehr in Gott. Aber
um diesen Ruf die Jahrtausende hindurch all die Menschheit richten zu können,
muß er selber in die Menschheit, in die Welt einkehren, dieser überweltliche
und weltslüchtige Geist, muß er sich ein Organ schaffen, eine festgefügte Ge¬
meinschaft, die in der Welt nicht anders bestehen kann, als nach eben jenen
Gesetzen und Gewohnheiten der Welt, die zu bekämpfen er in die Welt ge-
kommen ist.

Aus diesem Lebensgesetze begreift sichs, daß das Leben der Kirche einer¬
seits als ein beständiger Abfall von ihrer eignen Idee erscheint, anderseits als
ein beständiges Ringen gegen den Abfall in Reformbewegung und Sekten¬
bildung. Zur Gründung neuer Kirchen oder Sekten führt die einseitige Pflege
einer einzelnen christlichen Idee, die gerade im Augenblick vom Ganzen der
Kirche vernachlässigt wird. Stellt die Bewegung das Gleichgewicht wieder
her, indem sie jener vernachlässigten Idee zur Anerkennung oder Bestätigung
verhilft, so vollzieht sich eine Reform, sei es dnrch Verbesserung des großen
herrschenden Kirchenkörpers, sei es durch Gründung einer neuen Konfession
oder bloß eines nützlichen Ordens. sondert sich hingegen die Idee von dem


?iis mittelalterliche Sekteilwesen

die Nation im Innersten bewegt, mit dem, was sie anstrebt, was sie für
heilsam hält. Bis jetzt scheint dies nicht der Fall zu sein. Wenn sich aber die
Regierung die Antworten, die das Berliner Schulparlament ans die Kaiser¬
fragen gegeben hat, ncüons volons zu eigen »lacht, dann wird sie Sturm
ernte».




Das mittelalterliche ^ektenwesen

m
e Idee, die für sich allein bleibt, kann so wenig zur Entfaltung
kommen, wir eine abgesperrte Persönlichkeit. Ideen und Per¬
sonen werden wirksam, man darf vielleicht sagen wirklich, in der
Reibung und Wechselwirkung mit andern Ideen und Personen.
Sofern die aus einander einwirkenden Ideen und Personen im
Gegensatze zu einander stehen, erscheint ihre Wechselwirkung als Kampf. Und
dn keine Idee wie keine Persönlichkeit es vermeiden kann, die bekämpfte Idee
oder Person wenigstens teilweise in sich aufzunehmen, wird der Gegensatz in
sie selbst hineinverlegt und erscheint als Widerspruch. Daher sagt Hase ganz
richtig, der erste Schritt zur Verwirklichung einer Idee sei der Abfall von ihr
selbst, und der christliche Ideenkreis habe sich diesem allgemeinen Gesetze nicht
entziehen können. Um Kirche werden zu können, mußte der Geist des Christen¬
tums gewissermaßen von sich selber abfallen. Der Geist des Evangeliums
ruft den Menschen zur Abkehr von der Welt und zur Einkehr in Gott. Aber
um diesen Ruf die Jahrtausende hindurch all die Menschheit richten zu können,
muß er selber in die Menschheit, in die Welt einkehren, dieser überweltliche
und weltslüchtige Geist, muß er sich ein Organ schaffen, eine festgefügte Ge¬
meinschaft, die in der Welt nicht anders bestehen kann, als nach eben jenen
Gesetzen und Gewohnheiten der Welt, die zu bekämpfen er in die Welt ge-
kommen ist.

Aus diesem Lebensgesetze begreift sichs, daß das Leben der Kirche einer¬
seits als ein beständiger Abfall von ihrer eignen Idee erscheint, anderseits als
ein beständiges Ringen gegen den Abfall in Reformbewegung und Sekten¬
bildung. Zur Gründung neuer Kirchen oder Sekten führt die einseitige Pflege
einer einzelnen christlichen Idee, die gerade im Augenblick vom Ganzen der
Kirche vernachlässigt wird. Stellt die Bewegung das Gleichgewicht wieder
her, indem sie jener vernachlässigten Idee zur Anerkennung oder Bestätigung
verhilft, so vollzieht sich eine Reform, sei es dnrch Verbesserung des großen
herrschenden Kirchenkörpers, sei es durch Gründung einer neuen Konfession
oder bloß eines nützlichen Ordens. sondert sich hingegen die Idee von dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210100"/>
          <fw type="header" place="top"> ?iis mittelalterliche Sekteilwesen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_633" prev="#ID_632"> die Nation im Innersten bewegt, mit dem, was sie anstrebt, was sie für<lb/>
heilsam hält. Bis jetzt scheint dies nicht der Fall zu sein. Wenn sich aber die<lb/>
Regierung die Antworten, die das Berliner Schulparlament ans die Kaiser¬<lb/>
fragen gegeben hat, ncüons volons zu eigen »lacht, dann wird sie Sturm<lb/>
ernte».</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das mittelalterliche ^ektenwesen</head><lb/>
          <p xml:id="ID_634"> m<lb/>
e Idee, die für sich allein bleibt, kann so wenig zur Entfaltung<lb/>
kommen, wir eine abgesperrte Persönlichkeit. Ideen und Per¬<lb/>
sonen werden wirksam, man darf vielleicht sagen wirklich, in der<lb/>
Reibung und Wechselwirkung mit andern Ideen und Personen.<lb/>
Sofern die aus einander einwirkenden Ideen und Personen im<lb/>
Gegensatze zu einander stehen, erscheint ihre Wechselwirkung als Kampf. Und<lb/>
dn keine Idee wie keine Persönlichkeit es vermeiden kann, die bekämpfte Idee<lb/>
oder Person wenigstens teilweise in sich aufzunehmen, wird der Gegensatz in<lb/>
sie selbst hineinverlegt und erscheint als Widerspruch. Daher sagt Hase ganz<lb/>
richtig, der erste Schritt zur Verwirklichung einer Idee sei der Abfall von ihr<lb/>
selbst, und der christliche Ideenkreis habe sich diesem allgemeinen Gesetze nicht<lb/>
entziehen können. Um Kirche werden zu können, mußte der Geist des Christen¬<lb/>
tums gewissermaßen von sich selber abfallen. Der Geist des Evangeliums<lb/>
ruft den Menschen zur Abkehr von der Welt und zur Einkehr in Gott. Aber<lb/>
um diesen Ruf die Jahrtausende hindurch all die Menschheit richten zu können,<lb/>
muß er selber in die Menschheit, in die Welt einkehren, dieser überweltliche<lb/>
und weltslüchtige Geist, muß er sich ein Organ schaffen, eine festgefügte Ge¬<lb/>
meinschaft, die in der Welt nicht anders bestehen kann, als nach eben jenen<lb/>
Gesetzen und Gewohnheiten der Welt, die zu bekämpfen er in die Welt ge-<lb/>
kommen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Aus diesem Lebensgesetze begreift sichs, daß das Leben der Kirche einer¬<lb/>
seits als ein beständiger Abfall von ihrer eignen Idee erscheint, anderseits als<lb/>
ein beständiges Ringen gegen den Abfall in Reformbewegung und Sekten¬<lb/>
bildung. Zur Gründung neuer Kirchen oder Sekten führt die einseitige Pflege<lb/>
einer einzelnen christlichen Idee, die gerade im Augenblick vom Ganzen der<lb/>
Kirche vernachlässigt wird. Stellt die Bewegung das Gleichgewicht wieder<lb/>
her, indem sie jener vernachlässigten Idee zur Anerkennung oder Bestätigung<lb/>
verhilft, so vollzieht sich eine Reform, sei es dnrch Verbesserung des großen<lb/>
herrschenden Kirchenkörpers, sei es durch Gründung einer neuen Konfession<lb/>
oder bloß eines nützlichen Ordens.  sondert sich hingegen die Idee von dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0233] ?iis mittelalterliche Sekteilwesen die Nation im Innersten bewegt, mit dem, was sie anstrebt, was sie für heilsam hält. Bis jetzt scheint dies nicht der Fall zu sein. Wenn sich aber die Regierung die Antworten, die das Berliner Schulparlament ans die Kaiser¬ fragen gegeben hat, ncüons volons zu eigen »lacht, dann wird sie Sturm ernte». Das mittelalterliche ^ektenwesen m e Idee, die für sich allein bleibt, kann so wenig zur Entfaltung kommen, wir eine abgesperrte Persönlichkeit. Ideen und Per¬ sonen werden wirksam, man darf vielleicht sagen wirklich, in der Reibung und Wechselwirkung mit andern Ideen und Personen. Sofern die aus einander einwirkenden Ideen und Personen im Gegensatze zu einander stehen, erscheint ihre Wechselwirkung als Kampf. Und dn keine Idee wie keine Persönlichkeit es vermeiden kann, die bekämpfte Idee oder Person wenigstens teilweise in sich aufzunehmen, wird der Gegensatz in sie selbst hineinverlegt und erscheint als Widerspruch. Daher sagt Hase ganz richtig, der erste Schritt zur Verwirklichung einer Idee sei der Abfall von ihr selbst, und der christliche Ideenkreis habe sich diesem allgemeinen Gesetze nicht entziehen können. Um Kirche werden zu können, mußte der Geist des Christen¬ tums gewissermaßen von sich selber abfallen. Der Geist des Evangeliums ruft den Menschen zur Abkehr von der Welt und zur Einkehr in Gott. Aber um diesen Ruf die Jahrtausende hindurch all die Menschheit richten zu können, muß er selber in die Menschheit, in die Welt einkehren, dieser überweltliche und weltslüchtige Geist, muß er sich ein Organ schaffen, eine festgefügte Ge¬ meinschaft, die in der Welt nicht anders bestehen kann, als nach eben jenen Gesetzen und Gewohnheiten der Welt, die zu bekämpfen er in die Welt ge- kommen ist. Aus diesem Lebensgesetze begreift sichs, daß das Leben der Kirche einer¬ seits als ein beständiger Abfall von ihrer eignen Idee erscheint, anderseits als ein beständiges Ringen gegen den Abfall in Reformbewegung und Sekten¬ bildung. Zur Gründung neuer Kirchen oder Sekten führt die einseitige Pflege einer einzelnen christlichen Idee, die gerade im Augenblick vom Ganzen der Kirche vernachlässigt wird. Stellt die Bewegung das Gleichgewicht wieder her, indem sie jener vernachlässigten Idee zur Anerkennung oder Bestätigung verhilft, so vollzieht sich eine Reform, sei es dnrch Verbesserung des großen herrschenden Kirchenkörpers, sei es durch Gründung einer neuen Konfession oder bloß eines nützlichen Ordens. sondert sich hingegen die Idee von dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/233
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/233>, abgerufen am 24.07.2024.