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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Nation hervorgingen! ja das; es eine Zeit gab, wo der Eintritt in die Uni¬
versität gar nicht von einem Reifezeugnis abhing, eine Zeit, wo man Ver¬
trauen ans die menschliche Natur hatte, während jetzt das Vertrauen mehr auf
Papiernen Urkunden zu beruhen scheint. Der heutige Mensch, so meint man, käme
überhaupt nicht vorwärts, wenn er nicht durch Prüfungen genötigt würde, z"
lernen. Das ist ganz traurig. Sollten wir wirklich so weit heruntergekommen
sein, so weit von dem Geschlecht abstehen, das von 1780 bis 1820 den Höhe-
Punkt in der geistigen Entwicklung unsers Volkes bezeichnet nud von keiner
Prüfung etwas wußte? Die großen Dichter dieser Zeit, Goethe und Schiller,
auch die großen Philologen Wolf und Nielmhr, die beiden Humboldt, die
Gebrüder Grimm -- sie alle haben kein Abiturientenexamen gemacht. Wie
verächtlich vom Standpunkte des heutigen Schnlpfaffentnms einerseits und des
jugendlichen Strebertums anderseits! Ist doch mit dem Abiturientenexamen
die erste Staffel erstiegen, wodurch der junge Mann beinahe schon eine ge¬
wisse Anwartschaft ans eine Staatsanstellnng erwirbt.

Fassen wir doch Mut und kehren wir zu der alten Freiheit zurück!
Gönnen wir doch den einzelnen Anstalten und den einzelnen Menschen wieder
mehr freie Bewegung -- man wird sehen, daß die geistigen Kräfte dadurch
uicht gehemmt, sondern vielmehr frei werden. Durch die Staatsaktion der
Zwangsprüfmigen selbst wird nur Mittelmäßigkeit gezüchtet.

- Die Berliner Schnlkonferenz konnte sich nicht zu diesem Standpunkte er¬
heben. Ja sie gab sogar ihre Zustimmung zu dem unglücklichsten aller Ge¬
danken, die in dieser Versammlung produzirt worden sind, den Prüfnngs-
apparat noch zu vermehren und die Nation geistig noch mehr zu ruiniren,
nämlich eine Prüfung nach Znrttctlegnng der untern Sekunda einzuschieben.
Alle Freunde einer gesunden Entwicklung hatten gehofft, daß unsre hoher"
Schulen endlich von dem Drucke und der Last befreit würden, den die Rück¬
sicht ans die militärische Allsbildung im einjährigen Dienste ihnen bisher auf¬
erlegt hatte. Mau hatte gehofft, daß uur das Abgangszeugnis diese Be¬
rechtigung gewähren sollte, um alle diejenigen Schiller fern zu halten, die von
vornherein nur darnach streben, und sie dahin zu weisen, wohin sie gehören,
nämlich in die sechsklassigcn Realschulen. Nun wird der bisherige traurige
Zustand noch sanktionirt dnrch eine Prüfung! Unbegreiflich kleinlich und eng¬
herzig und wahrhaft betrübend, wenn man sich vorstellt, daß die Nation den
Mill verloren hätte, die abschüssige Bahn zu verlassen und sich mit einem
kräftigen Ruck in eine neue Richtung zu werfen.

Und nun bedenke man dies noch: am 18. März d. I. verkündigte der
Kultusminister im Abgeordnetenhauses "es habe sich auf Grund der hoch¬
herzigen Initiative Seiner Majestät die sichere Möglichkeit ergeben, daß das
ganze einjährig-freiwillige Berechtigungswesen, das das wesentlichste Hemmnis
für eine gedeihliche Entwicklung des höhern Unterrichts sei, aus der ganzen


Gmizbowi 1l 1891 39

Nation hervorgingen! ja das; es eine Zeit gab, wo der Eintritt in die Uni¬
versität gar nicht von einem Reifezeugnis abhing, eine Zeit, wo man Ver¬
trauen ans die menschliche Natur hatte, während jetzt das Vertrauen mehr auf
Papiernen Urkunden zu beruhen scheint. Der heutige Mensch, so meint man, käme
überhaupt nicht vorwärts, wenn er nicht durch Prüfungen genötigt würde, z»
lernen. Das ist ganz traurig. Sollten wir wirklich so weit heruntergekommen
sein, so weit von dem Geschlecht abstehen, das von 1780 bis 1820 den Höhe-
Punkt in der geistigen Entwicklung unsers Volkes bezeichnet nud von keiner
Prüfung etwas wußte? Die großen Dichter dieser Zeit, Goethe und Schiller,
auch die großen Philologen Wolf und Nielmhr, die beiden Humboldt, die
Gebrüder Grimm — sie alle haben kein Abiturientenexamen gemacht. Wie
verächtlich vom Standpunkte des heutigen Schnlpfaffentnms einerseits und des
jugendlichen Strebertums anderseits! Ist doch mit dem Abiturientenexamen
die erste Staffel erstiegen, wodurch der junge Mann beinahe schon eine ge¬
wisse Anwartschaft ans eine Staatsanstellnng erwirbt.

Fassen wir doch Mut und kehren wir zu der alten Freiheit zurück!
Gönnen wir doch den einzelnen Anstalten und den einzelnen Menschen wieder
mehr freie Bewegung — man wird sehen, daß die geistigen Kräfte dadurch
uicht gehemmt, sondern vielmehr frei werden. Durch die Staatsaktion der
Zwangsprüfmigen selbst wird nur Mittelmäßigkeit gezüchtet.

- Die Berliner Schnlkonferenz konnte sich nicht zu diesem Standpunkte er¬
heben. Ja sie gab sogar ihre Zustimmung zu dem unglücklichsten aller Ge¬
danken, die in dieser Versammlung produzirt worden sind, den Prüfnngs-
apparat noch zu vermehren und die Nation geistig noch mehr zu ruiniren,
nämlich eine Prüfung nach Znrttctlegnng der untern Sekunda einzuschieben.
Alle Freunde einer gesunden Entwicklung hatten gehofft, daß unsre hoher»
Schulen endlich von dem Drucke und der Last befreit würden, den die Rück¬
sicht ans die militärische Allsbildung im einjährigen Dienste ihnen bisher auf¬
erlegt hatte. Mau hatte gehofft, daß uur das Abgangszeugnis diese Be¬
rechtigung gewähren sollte, um alle diejenigen Schiller fern zu halten, die von
vornherein nur darnach streben, und sie dahin zu weisen, wohin sie gehören,
nämlich in die sechsklassigcn Realschulen. Nun wird der bisherige traurige
Zustand noch sanktionirt dnrch eine Prüfung! Unbegreiflich kleinlich und eng¬
herzig und wahrhaft betrübend, wenn man sich vorstellt, daß die Nation den
Mill verloren hätte, die abschüssige Bahn zu verlassen und sich mit einem
kräftigen Ruck in eine neue Richtung zu werfen.

Und nun bedenke man dies noch: am 18. März d. I. verkündigte der
Kultusminister im Abgeordnetenhauses „es habe sich auf Grund der hoch¬
herzigen Initiative Seiner Majestät die sichere Möglichkeit ergeben, daß das
ganze einjährig-freiwillige Berechtigungswesen, das das wesentlichste Hemmnis
für eine gedeihliche Entwicklung des höhern Unterrichts sei, aus der ganzen


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[0229] Nation hervorgingen! ja das; es eine Zeit gab, wo der Eintritt in die Uni¬ versität gar nicht von einem Reifezeugnis abhing, eine Zeit, wo man Ver¬ trauen ans die menschliche Natur hatte, während jetzt das Vertrauen mehr auf Papiernen Urkunden zu beruhen scheint. Der heutige Mensch, so meint man, käme überhaupt nicht vorwärts, wenn er nicht durch Prüfungen genötigt würde, z» lernen. Das ist ganz traurig. Sollten wir wirklich so weit heruntergekommen sein, so weit von dem Geschlecht abstehen, das von 1780 bis 1820 den Höhe- Punkt in der geistigen Entwicklung unsers Volkes bezeichnet nud von keiner Prüfung etwas wußte? Die großen Dichter dieser Zeit, Goethe und Schiller, auch die großen Philologen Wolf und Nielmhr, die beiden Humboldt, die Gebrüder Grimm — sie alle haben kein Abiturientenexamen gemacht. Wie verächtlich vom Standpunkte des heutigen Schnlpfaffentnms einerseits und des jugendlichen Strebertums anderseits! Ist doch mit dem Abiturientenexamen die erste Staffel erstiegen, wodurch der junge Mann beinahe schon eine ge¬ wisse Anwartschaft ans eine Staatsanstellnng erwirbt. Fassen wir doch Mut und kehren wir zu der alten Freiheit zurück! Gönnen wir doch den einzelnen Anstalten und den einzelnen Menschen wieder mehr freie Bewegung — man wird sehen, daß die geistigen Kräfte dadurch uicht gehemmt, sondern vielmehr frei werden. Durch die Staatsaktion der Zwangsprüfmigen selbst wird nur Mittelmäßigkeit gezüchtet. - Die Berliner Schnlkonferenz konnte sich nicht zu diesem Standpunkte er¬ heben. Ja sie gab sogar ihre Zustimmung zu dem unglücklichsten aller Ge¬ danken, die in dieser Versammlung produzirt worden sind, den Prüfnngs- apparat noch zu vermehren und die Nation geistig noch mehr zu ruiniren, nämlich eine Prüfung nach Znrttctlegnng der untern Sekunda einzuschieben. Alle Freunde einer gesunden Entwicklung hatten gehofft, daß unsre hoher» Schulen endlich von dem Drucke und der Last befreit würden, den die Rück¬ sicht ans die militärische Allsbildung im einjährigen Dienste ihnen bisher auf¬ erlegt hatte. Mau hatte gehofft, daß uur das Abgangszeugnis diese Be¬ rechtigung gewähren sollte, um alle diejenigen Schiller fern zu halten, die von vornherein nur darnach streben, und sie dahin zu weisen, wohin sie gehören, nämlich in die sechsklassigcn Realschulen. Nun wird der bisherige traurige Zustand noch sanktionirt dnrch eine Prüfung! Unbegreiflich kleinlich und eng¬ herzig und wahrhaft betrübend, wenn man sich vorstellt, daß die Nation den Mill verloren hätte, die abschüssige Bahn zu verlassen und sich mit einem kräftigen Ruck in eine neue Richtung zu werfen. Und nun bedenke man dies noch: am 18. März d. I. verkündigte der Kultusminister im Abgeordnetenhauses „es habe sich auf Grund der hoch¬ herzigen Initiative Seiner Majestät die sichere Möglichkeit ergeben, daß das ganze einjährig-freiwillige Berechtigungswesen, das das wesentlichste Hemmnis für eine gedeihliche Entwicklung des höhern Unterrichts sei, aus der ganzen Gmizbowi 1l 1891 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/229>, abgerufen am 24.07.2024.