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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Die sieben Schulfragen des Kaisers

der Klasse hin und her geworfen werden? Was helfen denn die neuesten
"Snbsellien," wenn sich die Lehrer nach den ältesten didaktischen Regeln
richten? Vielleicht nützt es etwas, wenn die Herren genötigt werden, sich mit
den wichtigsten Grundsätzen der Schulhygiene vertraut zu machen. Man
schlägt dann zwei Fliegen mit einem Schlage. Stürzen sie sich recht eifrig in
die Physiologie, dann dämmert ihnen vielleicht auch die Notwendigkeit auf,
sich recht eingehend mit der Psychologie zu beschäftigen, um den Wegen nach¬
spüren zu können, auf denen das Wachstum der jugendlichen Geister vor sich
zu gehen Pflegt.

Dies führt uns nun zur Beantwortung der Fragen 2 und 3. Mit
der Verminderung der Unterrichtsstunden verbindet sich von selbst eine Herab¬
setzung der Lehrziele und eine Ermäßigung des Lehrstoffes, sowie die Erwägung,
was für die einzelnen Klaffen um Unterrichtsstoff anzusetzen sei. Der Mensch
lebt bekanntlich nicht von dem, was er ißt, sondern von dem, was er verdaut.
Daher die große Sorgfalt bei der Zuscnnmeustelluug der Speisezettel, die in
merkwürdigem Gegensatz steht zu der großen Sorglosigkeit der Aufstellung der
Lehrpläne, die das in sich fassen, was der jugendliche Geist verarbeiten soll.
Nachdem der Grundsatz in unsern höhern Schulen zur Herrschaft gelangt war,
daß hier das Wissen um des Wissens willen gepflegt werden muß, war für die
Anhäufung der Lehrfracht eine unermeßliche Staffel eröffnet. Je mehr positives
Wissen aufgehäuft ward, je mehr in Einzelheiten und Feinheiten geglänzt werden
konnte, um so großartiger und dem Universitütsbetrieb näher gerückt fühlte man
sich. Es ist hohe Zeit, von diesem falschen Standpunkte zurückzutreten und recht
eindringlich den Satz nachzudenken, daß lernen, was Dinge bedeuten, heil¬
samer und notwendiger ist, als lernen, was Worte heißen. Die Überfülle
des Stoffes -- sie laßt sich fast in allen Fächern leicht nachweisen -- führt
aber mit unabweisbarer Nötigung zum Wortunterricht; denn auf die Grund¬
lage alles gediegenen Wissens, auf die äußere und innere Anschauung der
Dinge zurückzugehen, kostet Geduld und Zeit. Das pädagogische Gewissen der
Gymnasiallehrer ist aber im Durchschnitt lange nicht geweckt genug, um den
Lehrer mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Erkenntnis der Grundbedingungen
alles gründlichen Lernens zurückzuweisen. Nur zu leicht wird über den Reiz
neuer Mitteilungen die psychologisch notwendige Kettenfolge der Unterrichts¬
prozesse vernachlässigt und der Schüler zum Wortemachen verleitet, zu der
Einbildung verführt, als wüßte er Sachen, während er doch nnr Phrasen
plappere, als Hütte er Brot, während er doch nur Steine hat. Aus der Über¬
fülle des Lehrstoffes, die selbst in pädagogisch gut geleiteten Schulen noch vor¬
herrscht, weil die Macht der Gewohnheit stärker zu sein pflegt als die ver¬
nünftige Überlegung, und weil von der Theorie zur Praxis selbst für einen
energischen Maun der Weg gar weit ist, geschweige denn für solche Naturen,
die schön zu reden, aber schlecht zu handeln verstehen, aus dieser Überfülle geht


Die sieben Schulfragen des Kaisers

der Klasse hin und her geworfen werden? Was helfen denn die neuesten
„Snbsellien," wenn sich die Lehrer nach den ältesten didaktischen Regeln
richten? Vielleicht nützt es etwas, wenn die Herren genötigt werden, sich mit
den wichtigsten Grundsätzen der Schulhygiene vertraut zu machen. Man
schlägt dann zwei Fliegen mit einem Schlage. Stürzen sie sich recht eifrig in
die Physiologie, dann dämmert ihnen vielleicht auch die Notwendigkeit auf,
sich recht eingehend mit der Psychologie zu beschäftigen, um den Wegen nach¬
spüren zu können, auf denen das Wachstum der jugendlichen Geister vor sich
zu gehen Pflegt.

Dies führt uns nun zur Beantwortung der Fragen 2 und 3. Mit
der Verminderung der Unterrichtsstunden verbindet sich von selbst eine Herab¬
setzung der Lehrziele und eine Ermäßigung des Lehrstoffes, sowie die Erwägung,
was für die einzelnen Klaffen um Unterrichtsstoff anzusetzen sei. Der Mensch
lebt bekanntlich nicht von dem, was er ißt, sondern von dem, was er verdaut.
Daher die große Sorgfalt bei der Zuscnnmeustelluug der Speisezettel, die in
merkwürdigem Gegensatz steht zu der großen Sorglosigkeit der Aufstellung der
Lehrpläne, die das in sich fassen, was der jugendliche Geist verarbeiten soll.
Nachdem der Grundsatz in unsern höhern Schulen zur Herrschaft gelangt war,
daß hier das Wissen um des Wissens willen gepflegt werden muß, war für die
Anhäufung der Lehrfracht eine unermeßliche Staffel eröffnet. Je mehr positives
Wissen aufgehäuft ward, je mehr in Einzelheiten und Feinheiten geglänzt werden
konnte, um so großartiger und dem Universitütsbetrieb näher gerückt fühlte man
sich. Es ist hohe Zeit, von diesem falschen Standpunkte zurückzutreten und recht
eindringlich den Satz nachzudenken, daß lernen, was Dinge bedeuten, heil¬
samer und notwendiger ist, als lernen, was Worte heißen. Die Überfülle
des Stoffes — sie laßt sich fast in allen Fächern leicht nachweisen — führt
aber mit unabweisbarer Nötigung zum Wortunterricht; denn auf die Grund¬
lage alles gediegenen Wissens, auf die äußere und innere Anschauung der
Dinge zurückzugehen, kostet Geduld und Zeit. Das pädagogische Gewissen der
Gymnasiallehrer ist aber im Durchschnitt lange nicht geweckt genug, um den
Lehrer mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Erkenntnis der Grundbedingungen
alles gründlichen Lernens zurückzuweisen. Nur zu leicht wird über den Reiz
neuer Mitteilungen die psychologisch notwendige Kettenfolge der Unterrichts¬
prozesse vernachlässigt und der Schüler zum Wortemachen verleitet, zu der
Einbildung verführt, als wüßte er Sachen, während er doch nnr Phrasen
plappere, als Hütte er Brot, während er doch nur Steine hat. Aus der Über¬
fülle des Lehrstoffes, die selbst in pädagogisch gut geleiteten Schulen noch vor¬
herrscht, weil die Macht der Gewohnheit stärker zu sein pflegt als die ver¬
nünftige Überlegung, und weil von der Theorie zur Praxis selbst für einen
energischen Maun der Weg gar weit ist, geschweige denn für solche Naturen,
die schön zu reden, aber schlecht zu handeln verstehen, aus dieser Überfülle geht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/225>, abgerufen am 24.07.2024.