Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Nationalismus

Europas zu suchen, wenn nicht in dem Gebiete seiner Kultur? Warum predigt
Europa in alleu andern Weltteilen Humanität und läßt sie bei sich zu Hause
verhöhnen?

Der sozusagen bis an die Zähne bewaffnete Friede von heute hat es
verschuldet, daß mehr als jemals ein offener Krieg gegen die kleinen Nationen
und gegen schwache Vrnchteile von großen Nationen überall geführt wird.
Wer wollte die hohe sittliche Bedeutung der nationalen Idee leugnen, wer
einer Nation das Recht absprechen, mit aller Kraft sür ihr Dasein und ihre
Entwicklung einzutreten? Indessen hat sich ein Wettstreit um die äußere Macht
eingestellt, der die Entwicklung aller Nationen stört und das Dasein mancher
bedroht. Man hört als oberstes Ziel der Politik vielfach die Erhaltung des
Friedens erklären. Was ist denn ein Friede viere, der nur darin besteht, daß
kein Blut vergossen wird, dafür aber andre menschliche Güter, die ebenso heilig
sein sollten, für vogelfrei erklärt werden? Erhaltung nicht des Friedens,
sondern der europäischen Kultur ist die oberste Aufgabe. Wenn diese Krieg
fordert, so ist kein Krieg besser begründet als dieser. Es scheint, als ob das
feste Zusammenballen der großen Nationen zur Folge haben sollte, daß die
Splitter der großen und ebenso die kleinen Stämme werden erdrückt werden.
Es mag dahingestellt bleiben, ob das zum Vorteil des Ganzen gereichen würde;
aber gewiß bringt es der Kultur, der Humanität, die doch den Völkern zum
Vorteil gereichen, keinen Nutzen, wenn diese Splitter und kleinen Stämme statt
mit den Waffen der Kultur mit denen roher Gewalt in Gestalt von Zwaugs-
gesetzen und Pvlizeiordnungen erdrückt werden. Gegenüber dem unvernünftigen
Festhalten der Polen an ihren alten Ansprüchen auf Posen haben wir ohne
Zweifel Recht und Pflicht, dein Deutschtum dort Raum zu schaffen; der sichere
Besitz von Posen ist eine Lebensfrage des deutschen Volkes. Aber hüten Nur
uns, dort oder anderwärts andre als humane, als, wenn man so sagen darf,
indirekte Wege zu gehen. Ein solcher Weg ist der, ans dem sich die An-
siedlungskommission befindet. Es ist weit humaner, weit würdiger eines
Kulturvolkes, es ist zuletzt politisch nützlicher, zu verdeutschen, indem man die
Fremden durch Auflauf entfernt, als indem man sie zwangsweise zu eut-
uationalisiren sucht. Dürfen wir etwa der Kulturkraft unsers Volkes nicht
zutrauen, daß sie uns die polnischen Gebiete erobern werde durch Intelligenz,
Fleiß, Ausdauer, Rechtschaffenheit des deutschen Einwanderers? Der Macht
des polnischen Nationalismus, der von dem polnischen Volke vertreten wird,
mögen auch Machtmittel des deutschen Rationalismus Vonseiten des Staates
entgegengesetzt werden; aber sie seien solche, die den Deutschen und das Deutsche
fördern, nicht solche, die den Polen und das Polnische vergewaltigen. Der
Fremde, der ihnen zwangsweise Sprache, Glauben, Schule, Recht, Sitte, Denk¬
weise ändert oder nimmt, d. h. die gewaltsame Entnationalisirnng, ist und
bleibt ein Unrecht, anch wenn man als Volk von höherer Kultur einen: von


Der Nationalismus

Europas zu suchen, wenn nicht in dem Gebiete seiner Kultur? Warum predigt
Europa in alleu andern Weltteilen Humanität und läßt sie bei sich zu Hause
verhöhnen?

Der sozusagen bis an die Zähne bewaffnete Friede von heute hat es
verschuldet, daß mehr als jemals ein offener Krieg gegen die kleinen Nationen
und gegen schwache Vrnchteile von großen Nationen überall geführt wird.
Wer wollte die hohe sittliche Bedeutung der nationalen Idee leugnen, wer
einer Nation das Recht absprechen, mit aller Kraft sür ihr Dasein und ihre
Entwicklung einzutreten? Indessen hat sich ein Wettstreit um die äußere Macht
eingestellt, der die Entwicklung aller Nationen stört und das Dasein mancher
bedroht. Man hört als oberstes Ziel der Politik vielfach die Erhaltung des
Friedens erklären. Was ist denn ein Friede viere, der nur darin besteht, daß
kein Blut vergossen wird, dafür aber andre menschliche Güter, die ebenso heilig
sein sollten, für vogelfrei erklärt werden? Erhaltung nicht des Friedens,
sondern der europäischen Kultur ist die oberste Aufgabe. Wenn diese Krieg
fordert, so ist kein Krieg besser begründet als dieser. Es scheint, als ob das
feste Zusammenballen der großen Nationen zur Folge haben sollte, daß die
Splitter der großen und ebenso die kleinen Stämme werden erdrückt werden.
Es mag dahingestellt bleiben, ob das zum Vorteil des Ganzen gereichen würde;
aber gewiß bringt es der Kultur, der Humanität, die doch den Völkern zum
Vorteil gereichen, keinen Nutzen, wenn diese Splitter und kleinen Stämme statt
mit den Waffen der Kultur mit denen roher Gewalt in Gestalt von Zwaugs-
gesetzen und Pvlizeiordnungen erdrückt werden. Gegenüber dem unvernünftigen
Festhalten der Polen an ihren alten Ansprüchen auf Posen haben wir ohne
Zweifel Recht und Pflicht, dein Deutschtum dort Raum zu schaffen; der sichere
Besitz von Posen ist eine Lebensfrage des deutschen Volkes. Aber hüten Nur
uns, dort oder anderwärts andre als humane, als, wenn man so sagen darf,
indirekte Wege zu gehen. Ein solcher Weg ist der, ans dem sich die An-
siedlungskommission befindet. Es ist weit humaner, weit würdiger eines
Kulturvolkes, es ist zuletzt politisch nützlicher, zu verdeutschen, indem man die
Fremden durch Auflauf entfernt, als indem man sie zwangsweise zu eut-
uationalisiren sucht. Dürfen wir etwa der Kulturkraft unsers Volkes nicht
zutrauen, daß sie uns die polnischen Gebiete erobern werde durch Intelligenz,
Fleiß, Ausdauer, Rechtschaffenheit des deutschen Einwanderers? Der Macht
des polnischen Nationalismus, der von dem polnischen Volke vertreten wird,
mögen auch Machtmittel des deutschen Rationalismus Vonseiten des Staates
entgegengesetzt werden; aber sie seien solche, die den Deutschen und das Deutsche
fördern, nicht solche, die den Polen und das Polnische vergewaltigen. Der
Fremde, der ihnen zwangsweise Sprache, Glauben, Schule, Recht, Sitte, Denk¬
weise ändert oder nimmt, d. h. die gewaltsame Entnationalisirnng, ist und
bleibt ein Unrecht, anch wenn man als Volk von höherer Kultur einen: von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210049"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Nationalismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_480" prev="#ID_479"> Europas zu suchen, wenn nicht in dem Gebiete seiner Kultur? Warum predigt<lb/>
Europa in alleu andern Weltteilen Humanität und läßt sie bei sich zu Hause<lb/>
verhöhnen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_481" next="#ID_482"> Der sozusagen bis an die Zähne bewaffnete Friede von heute hat es<lb/>
verschuldet, daß mehr als jemals ein offener Krieg gegen die kleinen Nationen<lb/>
und gegen schwache Vrnchteile von großen Nationen überall geführt wird.<lb/>
Wer wollte die hohe sittliche Bedeutung der nationalen Idee leugnen, wer<lb/>
einer Nation das Recht absprechen, mit aller Kraft sür ihr Dasein und ihre<lb/>
Entwicklung einzutreten? Indessen hat sich ein Wettstreit um die äußere Macht<lb/>
eingestellt, der die Entwicklung aller Nationen stört und das Dasein mancher<lb/>
bedroht. Man hört als oberstes Ziel der Politik vielfach die Erhaltung des<lb/>
Friedens erklären. Was ist denn ein Friede viere, der nur darin besteht, daß<lb/>
kein Blut vergossen wird, dafür aber andre menschliche Güter, die ebenso heilig<lb/>
sein sollten, für vogelfrei erklärt werden? Erhaltung nicht des Friedens,<lb/>
sondern der europäischen Kultur ist die oberste Aufgabe. Wenn diese Krieg<lb/>
fordert, so ist kein Krieg besser begründet als dieser. Es scheint, als ob das<lb/>
feste Zusammenballen der großen Nationen zur Folge haben sollte, daß die<lb/>
Splitter der großen und ebenso die kleinen Stämme werden erdrückt werden.<lb/>
Es mag dahingestellt bleiben, ob das zum Vorteil des Ganzen gereichen würde;<lb/>
aber gewiß bringt es der Kultur, der Humanität, die doch den Völkern zum<lb/>
Vorteil gereichen, keinen Nutzen, wenn diese Splitter und kleinen Stämme statt<lb/>
mit den Waffen der Kultur mit denen roher Gewalt in Gestalt von Zwaugs-<lb/>
gesetzen und Pvlizeiordnungen erdrückt werden. Gegenüber dem unvernünftigen<lb/>
Festhalten der Polen an ihren alten Ansprüchen auf Posen haben wir ohne<lb/>
Zweifel Recht und Pflicht, dein Deutschtum dort Raum zu schaffen; der sichere<lb/>
Besitz von Posen ist eine Lebensfrage des deutschen Volkes. Aber hüten Nur<lb/>
uns, dort oder anderwärts andre als humane, als, wenn man so sagen darf,<lb/>
indirekte Wege zu gehen. Ein solcher Weg ist der, ans dem sich die An-<lb/>
siedlungskommission befindet. Es ist weit humaner, weit würdiger eines<lb/>
Kulturvolkes, es ist zuletzt politisch nützlicher, zu verdeutschen, indem man die<lb/>
Fremden durch Auflauf entfernt, als indem man sie zwangsweise zu eut-<lb/>
uationalisiren sucht. Dürfen wir etwa der Kulturkraft unsers Volkes nicht<lb/>
zutrauen, daß sie uns die polnischen Gebiete erobern werde durch Intelligenz,<lb/>
Fleiß, Ausdauer, Rechtschaffenheit des deutschen Einwanderers? Der Macht<lb/>
des polnischen Nationalismus, der von dem polnischen Volke vertreten wird,<lb/>
mögen auch Machtmittel des deutschen Rationalismus Vonseiten des Staates<lb/>
entgegengesetzt werden; aber sie seien solche, die den Deutschen und das Deutsche<lb/>
fördern, nicht solche, die den Polen und das Polnische vergewaltigen. Der<lb/>
Fremde, der ihnen zwangsweise Sprache, Glauben, Schule, Recht, Sitte, Denk¬<lb/>
weise ändert oder nimmt, d. h. die gewaltsame Entnationalisirnng, ist und<lb/>
bleibt ein Unrecht, anch wenn man als Volk von höherer Kultur einen: von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0182] Der Nationalismus Europas zu suchen, wenn nicht in dem Gebiete seiner Kultur? Warum predigt Europa in alleu andern Weltteilen Humanität und läßt sie bei sich zu Hause verhöhnen? Der sozusagen bis an die Zähne bewaffnete Friede von heute hat es verschuldet, daß mehr als jemals ein offener Krieg gegen die kleinen Nationen und gegen schwache Vrnchteile von großen Nationen überall geführt wird. Wer wollte die hohe sittliche Bedeutung der nationalen Idee leugnen, wer einer Nation das Recht absprechen, mit aller Kraft sür ihr Dasein und ihre Entwicklung einzutreten? Indessen hat sich ein Wettstreit um die äußere Macht eingestellt, der die Entwicklung aller Nationen stört und das Dasein mancher bedroht. Man hört als oberstes Ziel der Politik vielfach die Erhaltung des Friedens erklären. Was ist denn ein Friede viere, der nur darin besteht, daß kein Blut vergossen wird, dafür aber andre menschliche Güter, die ebenso heilig sein sollten, für vogelfrei erklärt werden? Erhaltung nicht des Friedens, sondern der europäischen Kultur ist die oberste Aufgabe. Wenn diese Krieg fordert, so ist kein Krieg besser begründet als dieser. Es scheint, als ob das feste Zusammenballen der großen Nationen zur Folge haben sollte, daß die Splitter der großen und ebenso die kleinen Stämme werden erdrückt werden. Es mag dahingestellt bleiben, ob das zum Vorteil des Ganzen gereichen würde; aber gewiß bringt es der Kultur, der Humanität, die doch den Völkern zum Vorteil gereichen, keinen Nutzen, wenn diese Splitter und kleinen Stämme statt mit den Waffen der Kultur mit denen roher Gewalt in Gestalt von Zwaugs- gesetzen und Pvlizeiordnungen erdrückt werden. Gegenüber dem unvernünftigen Festhalten der Polen an ihren alten Ansprüchen auf Posen haben wir ohne Zweifel Recht und Pflicht, dein Deutschtum dort Raum zu schaffen; der sichere Besitz von Posen ist eine Lebensfrage des deutschen Volkes. Aber hüten Nur uns, dort oder anderwärts andre als humane, als, wenn man so sagen darf, indirekte Wege zu gehen. Ein solcher Weg ist der, ans dem sich die An- siedlungskommission befindet. Es ist weit humaner, weit würdiger eines Kulturvolkes, es ist zuletzt politisch nützlicher, zu verdeutschen, indem man die Fremden durch Auflauf entfernt, als indem man sie zwangsweise zu eut- uationalisiren sucht. Dürfen wir etwa der Kulturkraft unsers Volkes nicht zutrauen, daß sie uns die polnischen Gebiete erobern werde durch Intelligenz, Fleiß, Ausdauer, Rechtschaffenheit des deutschen Einwanderers? Der Macht des polnischen Nationalismus, der von dem polnischen Volke vertreten wird, mögen auch Machtmittel des deutschen Rationalismus Vonseiten des Staates entgegengesetzt werden; aber sie seien solche, die den Deutschen und das Deutsche fördern, nicht solche, die den Polen und das Polnische vergewaltigen. Der Fremde, der ihnen zwangsweise Sprache, Glauben, Schule, Recht, Sitte, Denk¬ weise ändert oder nimmt, d. h. die gewaltsame Entnationalisirnng, ist und bleibt ein Unrecht, anch wenn man als Volk von höherer Kultur einen: von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/182
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/182>, abgerufen am 24.07.2024.