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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

Hunderte folgen den Jahrhunderten, Rußland liegt in verächtlicher Faulheit
und sinnloser Unthätigkeit da, und uus wird der Manu nicht gegeben, der es
auszusprechen verstünde, das gewaltige Wort." Und nach diesem Wort schreit
jeder ernste Schriftsteller und Gogol aus tiefster Seele. Ist Leblosigkeit
wünschenswerter als ein Leben voller Arbeit, Mühe, Kampf, Ringen nach
Besserem? Glücklich in jenem Rousseauschen Sinne! Ja, das ist vielleicht der
Zwergmeusch, der von Schweinfurth entdeckte Aka im Innersten afrikanischer
Wildnis, der so sorgenlos lebt wie der Orang und Schimpanse neben ihm;
glücklich ist vielleicht sogar die Mehrzahl der Sklaven in den Negerdörfern
des dunkeln Weltteils. Man will diese jetzt im Namen der Kultur ihrer
Glückseligkeit entreißen. Hier tritt der Europäer unter der Flagge nationaler,
europäischer Kultur auf, hier stellt er die Kultur obenan. Und gerade hier
könnte man meinen, der Neger hätte allen Grund, sich für die Zivilisation
zu bedanken, die ihm in Aussicht stellt, dereinst etwa als Einwohner einer
Großstadt zu hungern, während er heute mit wenig Arbeit alle seine Bedürfnisse
leicht befriedigt. In Afrika und andern Weltteilen meinen die großen Nationen
Enropas ihre nationale Kultur ans der Spitze des Schwertes verbreiten zu
müssen -- sei es auch uur zur sittlichen Ausschmückung sehr gewöhnlichen
Nutzens --, und daheim in Europa ist der Nationalismus ans dein Wege,
zu einem Prinzip roher Gewalt -- wenn man hier von Prinzip reden darf --,
d. h. zu einem Werkzeug der Kultnrzerstöruug zu werden. Haben die leitenden
Kulturvölker ein Recht, einen Beruf, die Kultur dem Neger aufzuzwingen,
warum haben sie nicht deu Mut, in Europa allenthalben für europäische Ge¬
sittung einzutreten? Weshalb reicht der Mut nur aus, um etwa in der Türkei
deu Schutzmann der Zivilisation zu spielen, uicht aber, um in christlichen
Staaten Recht und Kultur gegen das Naubrittertum eines verrohten und ver¬
fälschten Rationalismus, gegen den Übermut der Majoritäten zu verteidigen?
Man brüstet sich heute gern damit, daß nur die Arbeit, der Pflug erobernd
wrschreite, nicht mehr die zerstörende Gewalt entfernter Zeiten. Ja wenn
das wahr wäre! Wenn man das Ringen der Stämme und Nassen um Raum
auf dein Erdboden der Kraft des Einzelnen überließe, der Kraft der Gemeinde,
der Arbeit friedlich staatlicher Mittel, der Intelligenz, dein Charakter, dem
Fleiß, dein Ordnungssinn, dem Rechtsbewußtsein! Statt dessen geht das Er¬
obern, ehedem eine Veschäftignug von Fürsten, von Nasse und Volk aus, und
während die Fürsten in frühern Jahrhunderten dem Unterworfenen nur seine
alte Staatsform, seinen alten Fürsten nahmen, raubt der heutige Nationalis¬
mus dem Unterworfenen seine heiligsten Güter, Recht, Glaube, Sprache, Sitte.
Welche Art von Eroberung ist nun härter? Wo ist hier mehr Humanität,
Zivilisation? Im Namen der Nationalität werden Nationalitäten geknechtet,
man nennt das Realpolitik, und Europa wagt kaum eine offne Rüge, ge¬
schweige denn eine Einmischung. Wo ist eine Solidarität der Interessen


Grelizlwten II 1391 23
Der Nationalismus

Hunderte folgen den Jahrhunderten, Rußland liegt in verächtlicher Faulheit
und sinnloser Unthätigkeit da, und uus wird der Manu nicht gegeben, der es
auszusprechen verstünde, das gewaltige Wort." Und nach diesem Wort schreit
jeder ernste Schriftsteller und Gogol aus tiefster Seele. Ist Leblosigkeit
wünschenswerter als ein Leben voller Arbeit, Mühe, Kampf, Ringen nach
Besserem? Glücklich in jenem Rousseauschen Sinne! Ja, das ist vielleicht der
Zwergmeusch, der von Schweinfurth entdeckte Aka im Innersten afrikanischer
Wildnis, der so sorgenlos lebt wie der Orang und Schimpanse neben ihm;
glücklich ist vielleicht sogar die Mehrzahl der Sklaven in den Negerdörfern
des dunkeln Weltteils. Man will diese jetzt im Namen der Kultur ihrer
Glückseligkeit entreißen. Hier tritt der Europäer unter der Flagge nationaler,
europäischer Kultur auf, hier stellt er die Kultur obenan. Und gerade hier
könnte man meinen, der Neger hätte allen Grund, sich für die Zivilisation
zu bedanken, die ihm in Aussicht stellt, dereinst etwa als Einwohner einer
Großstadt zu hungern, während er heute mit wenig Arbeit alle seine Bedürfnisse
leicht befriedigt. In Afrika und andern Weltteilen meinen die großen Nationen
Enropas ihre nationale Kultur ans der Spitze des Schwertes verbreiten zu
müssen — sei es auch uur zur sittlichen Ausschmückung sehr gewöhnlichen
Nutzens —, und daheim in Europa ist der Nationalismus ans dein Wege,
zu einem Prinzip roher Gewalt — wenn man hier von Prinzip reden darf —,
d. h. zu einem Werkzeug der Kultnrzerstöruug zu werden. Haben die leitenden
Kulturvölker ein Recht, einen Beruf, die Kultur dem Neger aufzuzwingen,
warum haben sie nicht deu Mut, in Europa allenthalben für europäische Ge¬
sittung einzutreten? Weshalb reicht der Mut nur aus, um etwa in der Türkei
deu Schutzmann der Zivilisation zu spielen, uicht aber, um in christlichen
Staaten Recht und Kultur gegen das Naubrittertum eines verrohten und ver¬
fälschten Rationalismus, gegen den Übermut der Majoritäten zu verteidigen?
Man brüstet sich heute gern damit, daß nur die Arbeit, der Pflug erobernd
wrschreite, nicht mehr die zerstörende Gewalt entfernter Zeiten. Ja wenn
das wahr wäre! Wenn man das Ringen der Stämme und Nassen um Raum
auf dein Erdboden der Kraft des Einzelnen überließe, der Kraft der Gemeinde,
der Arbeit friedlich staatlicher Mittel, der Intelligenz, dein Charakter, dem
Fleiß, dein Ordnungssinn, dem Rechtsbewußtsein! Statt dessen geht das Er¬
obern, ehedem eine Veschäftignug von Fürsten, von Nasse und Volk aus, und
während die Fürsten in frühern Jahrhunderten dem Unterworfenen nur seine
alte Staatsform, seinen alten Fürsten nahmen, raubt der heutige Nationalis¬
mus dem Unterworfenen seine heiligsten Güter, Recht, Glaube, Sprache, Sitte.
Welche Art von Eroberung ist nun härter? Wo ist hier mehr Humanität,
Zivilisation? Im Namen der Nationalität werden Nationalitäten geknechtet,
man nennt das Realpolitik, und Europa wagt kaum eine offne Rüge, ge¬
schweige denn eine Einmischung. Wo ist eine Solidarität der Interessen


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[0181] Der Nationalismus Hunderte folgen den Jahrhunderten, Rußland liegt in verächtlicher Faulheit und sinnloser Unthätigkeit da, und uus wird der Manu nicht gegeben, der es auszusprechen verstünde, das gewaltige Wort." Und nach diesem Wort schreit jeder ernste Schriftsteller und Gogol aus tiefster Seele. Ist Leblosigkeit wünschenswerter als ein Leben voller Arbeit, Mühe, Kampf, Ringen nach Besserem? Glücklich in jenem Rousseauschen Sinne! Ja, das ist vielleicht der Zwergmeusch, der von Schweinfurth entdeckte Aka im Innersten afrikanischer Wildnis, der so sorgenlos lebt wie der Orang und Schimpanse neben ihm; glücklich ist vielleicht sogar die Mehrzahl der Sklaven in den Negerdörfern des dunkeln Weltteils. Man will diese jetzt im Namen der Kultur ihrer Glückseligkeit entreißen. Hier tritt der Europäer unter der Flagge nationaler, europäischer Kultur auf, hier stellt er die Kultur obenan. Und gerade hier könnte man meinen, der Neger hätte allen Grund, sich für die Zivilisation zu bedanken, die ihm in Aussicht stellt, dereinst etwa als Einwohner einer Großstadt zu hungern, während er heute mit wenig Arbeit alle seine Bedürfnisse leicht befriedigt. In Afrika und andern Weltteilen meinen die großen Nationen Enropas ihre nationale Kultur ans der Spitze des Schwertes verbreiten zu müssen — sei es auch uur zur sittlichen Ausschmückung sehr gewöhnlichen Nutzens —, und daheim in Europa ist der Nationalismus ans dein Wege, zu einem Prinzip roher Gewalt — wenn man hier von Prinzip reden darf —, d. h. zu einem Werkzeug der Kultnrzerstöruug zu werden. Haben die leitenden Kulturvölker ein Recht, einen Beruf, die Kultur dem Neger aufzuzwingen, warum haben sie nicht deu Mut, in Europa allenthalben für europäische Ge¬ sittung einzutreten? Weshalb reicht der Mut nur aus, um etwa in der Türkei deu Schutzmann der Zivilisation zu spielen, uicht aber, um in christlichen Staaten Recht und Kultur gegen das Naubrittertum eines verrohten und ver¬ fälschten Rationalismus, gegen den Übermut der Majoritäten zu verteidigen? Man brüstet sich heute gern damit, daß nur die Arbeit, der Pflug erobernd wrschreite, nicht mehr die zerstörende Gewalt entfernter Zeiten. Ja wenn das wahr wäre! Wenn man das Ringen der Stämme und Nassen um Raum auf dein Erdboden der Kraft des Einzelnen überließe, der Kraft der Gemeinde, der Arbeit friedlich staatlicher Mittel, der Intelligenz, dein Charakter, dem Fleiß, dein Ordnungssinn, dem Rechtsbewußtsein! Statt dessen geht das Er¬ obern, ehedem eine Veschäftignug von Fürsten, von Nasse und Volk aus, und während die Fürsten in frühern Jahrhunderten dem Unterworfenen nur seine alte Staatsform, seinen alten Fürsten nahmen, raubt der heutige Nationalis¬ mus dem Unterworfenen seine heiligsten Güter, Recht, Glaube, Sprache, Sitte. Welche Art von Eroberung ist nun härter? Wo ist hier mehr Humanität, Zivilisation? Im Namen der Nationalität werden Nationalitäten geknechtet, man nennt das Realpolitik, und Europa wagt kaum eine offne Rüge, ge¬ schweige denn eine Einmischung. Wo ist eine Solidarität der Interessen Grelizlwten II 1391 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/181>, abgerufen am 24.07.2024.